UkraineJean Asselborn über Putins „Barbarei“ und den Westen

Ukraine / Jean Asselborn über Putins „Barbarei“ und den Westen
Außenminister Jean Asselborn in seinem Büro in Luxemburg-Stadt Foto: Editpress/Julien Garroy

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Seit neun Monaten wütet der Ukraine-Krieg. Jean Asselborn forderte zu Beginn Putins „physische Eliminierung“, heute den Waffenstillstand. Ein Hintergrundgespräch über Putins „Barbarei“ und liberale Werte.

Abschottung, rechte Parolen und menschenfeindliche Propaganda: Der Herbst 2019 steht im Zeichen des Neofaschismus. Italiens Innenminister Matteo Salvini nennt Afrikaner die „neuen Sklaven“ der Migration, provoziert und treibt die EU-Migrationspolitik vor sich her. Auf dem Gipfel der Eskalation filmt Salvinis Team heimlich Asselborn. Das vertrauliche Ministergespräch in Wien geht um die Welt, US-Businessmedien nennen es „War of Words“.

An den Fakten hat sich seitdem wenig verändert. Die EU steht vor offenen Migrationsfragen, die Welt vor der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg: die Beendung der russischen Invasion in der Ukraine. Kritisierte Asselborn Italiens Innenminister 2019, faschistische Töne „der Dreißigerjahre anzuwenden“, tragen Putins Methoden heute Züge eines Vernichtungskriegs. Seit Russland seinen Nachbarstaat am 24. Februar 2022 überfallen hat, sind laut Reuters mindestens 10.000 ukrainische Soldaten gefallen. Im Kern geht es bei dem Krieg um territoriale Integrität, Energiesicherheit und die Sicherung einer liberalen Weltordnung.

Militärische Fehler

Parallelen zwischen der Migrations- und der Ukraine-Krise gibt es zuhauf: Umgang und Methode sind in Europa umstritten, im Zweifelsfall spielen Alliierte Feuerwehr. Stellte Recep Tayyip Erdogan Europas Migrationspolitik bloß, ist Putins Invasionskrieg das Paradebeispiel für strategische Fehler der EU: Weiche Macht gelangt bei autoritären Staaten an ihre Grenzen. Das Resultat ist die amerikanische Vorreiterrolle bei der militärischen Versorgung der Ukraine mit Finanzen und Kriegsmaterial.

Wie aber geht das Großherzogtum mit dem Konflikt um? Luxemburgs Chefdiplomat ist seit 2004 im Amt, kennt alle Dossiers – und hat pandemiebedingt eine kurze Verschnaufpause hinter sich. Seit Putins sogenannter „Spezialoperation“ war es das aber mit der Ruhe. Asselborn forderte im Eifer des Gefechts Putins „physische Eliminierung“. Es folgte im März der erneute Griff zur verbalen Klinge: „Wann dat russescht Vollek géif gesinn, wat de Putin do futti mécht a wéi vill Angscht hie mécht a wéi vill Liewen, datt hien um Gewëssen huet. Da géif menger Meenung no de Kreml gestierzt ginn. Dat wier jo och alles, wat een him kéint wënschen, datt dee géif wierklech och physesch eliminéiert ginn, fir datt dat dote géif ophalen“, so der Außenminister damals gegenüber Radio 100,7.

Asselborn ist Europas dienstältester Außenminister
Asselborn ist Europas dienstältester Außenminister Foto: Editpress/Julien Garroy

Spuren hinterlassen

Die Reaktionen im politischen Luxemburg verleiteten Asselborn zu einer Reaktion. In einer Stellungnahme hieß es: „Auch nach 18 Jahren als Außenminister kann ich meine Emotionen und meinen Gerechtigkeitssinn nicht unterdrücken angesichts des unermesslichen menschlichen Leids, das unschuldigen Menschen zugefügt wurde.“ Es sind authentische Worte – der 73-jährige Politiker mit dem „Bengel“ und dem „Velo“ genießt inzwischen internationalen Respekt und innenpolitische Narrenfreiheit.

Das Flair des Unsterblichen schwindet allerdings allmählich. Am Montag wird Asselborn am Knie operiert. Den meisten ist der Stengeforter als unverwundbarer Hobbysportler bekannt: Auf dem Rad sind es Disziplin und der „Mont Ventoux“, in der Diplomatie Vorbereitung und Verhandlungen, die ihre Spuren hinterlassen haben. Noch 2015 spricht Asselborn am Ende der Luxemburger EU-Présidence von „platten Batterien“ und „physischem Stress“. An einen Rücktritt denkt er aber nicht. Auch heute ist sein eiserner Wille der gleiche, nur der Körper braucht eine kurze Auszeit.

Wie kann ein UNO-Mitgliedstaat im Alleingang entscheiden, einen anderen Mitgliedstaat zu bombardieren?

„Kapott gemaach“

Asselborn nimmt sich im Außenministerium Zeit, die internationale Lage einzuordnen. Es ist der 1. Dezember 2022, in der rue du Palais de Justice hat sich wenig verändert. Einen „horrenden Einschnitt“ – so nennt Asselborn den Ukraine-Krieg. Diplomatie sei durch Putins Invasion ad absurdum geführt worden. Das habe ihn geschmerzt. Er habe gute Beziehungen zu Russlands Außenminister Sergej Lawrow gepflegt, Angela Merkel mit Putin auf Deutsch gesprochen und viele andere einen Austausch mit den russischen Autoritäten gehabt. Er sei erschüttert und hoffe, dass der Krieg ende.

Eine seiner Hauptsorgen: Dass der Konflikt nie endet. Wenn das weitersickere, werde nicht nur die Ukraine, nicht nur die Europäische Union, sondern die gesamte freie Welt „kapott gemaach“, echauffiert sich Asselborn. Er sehe keine Anzeichen dafür, dass es zu einem Ende des Kriegs komme. Die Russen seien dazu bereit, den Konflikt bis an das Asowsche Meer zu ziehen. Lediglich in der Südukraine hätten sie territoriale Gewinne verbuchen können. „Etwa 17 bis 19 Prozent des ukrainischen Territoriums sind von den Russen besetzt“, so Asselborn.

Internationales Gericht

Der Krieg sei durch die russische Mobilisierung jetzt in jedem Haushalt und in jeder Familie angekommen. Es werde eine Pause angestrebt, um im Frühling wieder neu aufzurüsten und zuzuschlagen. Umgekehrt könne der Ukraine auch kein Frieden aufgezwängt werden. Positiv seien die Gefangenenaustausche, die inzwischen stattfänden, aber: „Man darf den Menschen nicht etwas versprechen, von dem man nicht überzeugt ist, nämlich dass es bald vorüber ist“, betont Asselborn. Er ergänzt: „Wir haben 5.000 ukrainische Flüchtlinge aus der Ukraine bei uns – das sind Frauen und Kinder. Ihre Männer und Väter sitzen im Krieg und sehen ja auch, wie viele Menschen bereits getötet und verletzt worden sind.“

Asselborn wünscht sich deshalb, dass Putin für seine Taten eines Tages zur Rechenschaft gezogen wird. Dies müsse vor einem internationalen Strafgerichtshof geschehen. Dies dürfe nicht der Gerichtshof in Den Haag sein, sondern ein spezifischer internationaler Strafgerichtshof, der Putins „Barbarei“ beurteile. In der EU diskutiere man mit der UNO und den Amerikanern darüber, Länder zu finden, die ein solches Gericht ins Leben rufen. Inzwischen gebe es beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eine Einheit, die all die Zeugenaussagen der ukrainischen Staatsanwälte festhalten könne.

Jean Asselborn hofft auf einen baldigen Waffenstillstand in der Ukraine
Jean Asselborn hofft auf einen baldigen Waffenstillstand in der Ukraine Foto: Editpress/Julien Garroy

Russische Raketen

Zuerst müsse aber ein Waffenstillstand gesichert werden. „Es darf nicht mehr geschossen werden in der Ukraine. Es gibt kein Land, das das nicht will“, erinnert der Außenminister. Alle Staaten seien bemüht, eine europäische Linie zu halten. Das Problem sei, dass die Sanktionen gegen Russland nicht „vun haut op muer“ wirken, sie aber westlichen Widerstandswillen zeigen würden. Zudem sei monatelang über Waffenlieferungen diskutiert worden. Die Ukraine warne aber davor, dass Russland gezielt auf den Winter setze, um die Menschen im Dunkeln sitzen zu lassen. „Das zermürbt die Leute.“

Asselborn erinnert dabei an die internationale Rechtslage. Russland sei immer noch Mitglied der Vereinten Nationen: „Wie kann ein UNO-Mitgliedstaat im Alleingang entscheiden, einen anderen Mitgliedstaat zu bombardieren? Und das mit all dem Schaden, der dabei angerichtet wird.“ Die Ukrainer müssten deshalb Möglichkeiten erhalten, sich zu wehren. Es brauche mehr Luftabwehrsysteme, um russische Raketen abzufangen. Das Waffenarsenal der Russen sei veraltet, allerdings würden sie die Strukturen der Energieversorgung gezielt zerstören. Die damit verbundene Sorge dreht sich um einen harten Kriegswinter: Kommen wir mit eingeschränkten russischen Energielieferungen über die Runden?

Wenn Putin diesen Krieg gewinnt, habe ich große Angst um meine Kinder und Enkel

Ein „Luxusproblem“

Asselborn nuanciert und weist auf die internationale Gemengelage hin. Die Interessen der afrikanischen Staaten seien beispielsweise nicht die gleichen wie jene der Europäer. Das Speichern der Weizenreserven sei eine zentrale Sorge. Bei uns könne es wiederum passieren, dass wir bei 15 oder 16 Grad zu Hause sitzen. Das sei allerdings ein „Luxusproblem“. Es gebe Menschen, die wegen dieses Kriegs verhungern oder sterben würden. Mit Blick auf die Europäer und die Ukrainer sagt der Außenminister: „Wir bezahlen vielleicht mit Geld, sie bezahlen aber mit Blut.“

Asselborn sieht einem möglichen Sieg Russlands mit leichtem Entsetzen entgegen. Falls es tatsächlich dazu käme, sei die Perspektive fatal: „Wenn Putin diesen Krieg gewinnt, habe ich große Angst um meine Kinder und Enkel.“ Die Frage sei, wie sie dieses Jahrhundert überstehen würden. Putins Erfolg würde nämlich bedeuten, dass alle Werte über Bord geworfen würden, für die seit dem Zweiten Weltkrieg gekämpft worden sei: Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Demokratie. Man gebe unsere Gesellschaften so in die Hände von Autokraten.

Chinas Mittelstand

Der Diplomat warnt aber vor einem allzu westlichen Blick. Nicht alle Staaten würden diese liberale Sichtweise teilen. „Es gibt richtig große Länder, die das nicht so sehen, wie wir das tun.“ Ihre Perspektive sei abgeschwächter, weil sie Interessen zu Russland pflegen würden. Asselborn nennt hier als Beispiel Indien. Der Staat beziehe eine große Quantität an Waffen aus Russland. Es sei noch nie so viel russisches Gas und Öl nach Indien geliefert worden wie jetzt. Auch Brasilien, Algerien und die afrikanischen Staaten hätten eigene Interessen. Was Asselborn im Gespräch mit seinen Amtskollegen verdeutlichen will: „Es geht hier nicht allein um die Ukraine und Europa – morgen kann jemand anderes da sein.“

Asselborn habe zum Beispiel den Botschafter der Großmacht China getroffen. Er habe ihn gefragt: „Was tun Sie denn, wenn es morgen Kasachstan, Usbekistan oder Länder sind, die an ihrer Grenze liegen? Sind Sie dann auch noch so zurückhaltend?“ Die Hoffnung hinter diesem Vorgehen sei, den Einfluss auf die Russen zu vergrößern. Das sei vorher nicht möglich gewesen: Putin und Chinas Präsident Xi Jinping hätten eine gegen die westliche Welt gerichtete Politik geführt. Asselborn hat den chinesischen Botschafter in Luxemburg daran erinnert, dass Chinas Wohlstand kein Zufallsprodukt sei. Der chinesische Mittelstand sei wegen Europas hervorragender Beziehungen mit China aufgebaut worden. Das habe man nicht Russland zu verdanken und könne sehr schnell wieder in die Brüche gehen.

Die Weltordnung

Ein weiterer Aspekt, den China nicht vergessen dürfe: Das Land liefere keine Waffen und keine modernen Technologien an Russland. Nordkorea und der Iran seien vor allem dafür zuständig. Asselborn ist davon überzeugt, dass sich die Chinesen nicht darüber freuen, dass der Ukraine-Krieg stattfindet. Sie würden nicht tolerieren, dass Putin mit Atomwaffen davonkomme. Dies habe mit Chinas Entwicklung zu tun. Der Außenminister hat seit 2004 einen großen Wandel beobachtet. Die Chinesen hätten sich noch in einer defensiven Position befunden: „Sie haben einem gesagt, dass sie kein Entwicklungsland seien.“ Das solle auch nicht mehr der Fall sein. Man müsse respektieren, was die Chinesen fertiggebracht hätten.

„Wir befinden uns allerdings jetzt in einer Situation, in der China vielleicht schon in ein paar Jahren die größte Militärmacht der Welt ist. Das ist an sich kein Problem. Es passiert aber intransparent“, bedauert Asselborn. China baue sein Atomwaffenprogramm im Dunkeln aus. Zudem sei es im Weltall mit Satelliten präsent, ohne dass es sich an die vorherrschende Weltordnung halte. China sei deshalb möglicherweise auf einem Weg, wo es keine Grenzen mehr kennt. Laut Asselborn heißt das, dass China sagen könnte: „Wir sind für Menschenrechte, für Multilateralismus, aber alles auf Chinesisch verfasst.“ Das hieße wiederum, dass all dies nichts mehr mit der Weltordnung zu tun habe, die man nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut habe.

Es gibt richtig große Länder, die das nicht so sehen, wie wir das tun
Luxemburgs Außenminister warnt vor Chinas wachsender politischer Macht
Luxemburgs Außenminister warnt vor Chinas wachsender politischer Macht Foto: Editpress/Julien Garroy

dita.lu
6. Dezember 2022 - 8.02

ët ass elo esou, wéi ët ass ëch foë mëch just op mer ons eventuel dën Ascht oofgeschidden hun wou mër drop sëtzen

Filet de Boeuf
5. Dezember 2022 - 22.58

"In der EU diskutiere man mit der UNO und den Amerikanern darüber, Länder zu finden, die ein solches Gericht ins Leben rufen." Da müssen die eigenen Diplom-Kinder wieder untergebracht werden, um Urteile zu fällen, für dessen Ausführung kein Personal vorhanden ist. "Wenn Putin diesen Krieg gewinnt, habe ich große Angst um meine Kinder und Enkel" Genau, und ich habe Angst um unsere Soldaten und um mich selbst.

Leila
5. Dezember 2022 - 16.11

Ein „Luxusproblem“? Ja - aber nur für's Volk, bestimmt nicht für die "Oberen 10 000" - als ob die sich bei 15/16° warm zittern...

Phil
5. Dezember 2022 - 14.07

@mackel "matt Ennerstetzung vun den Amerikaner an éng oppen Dir hunn fir China" Majo, t'ass ganz léif vun iech fir ons drun ze erënneren, dass muer de Kleeschen kennt.

Karel vun Arel ..
5. Dezember 2022 - 14.03

Pardon ? seit 9 Meint Krich ? deen Krich Leeft schon seit 2015/2016 .. dann emer deen Ausdrock , Krich an Europa! geheiert Ukraine zu Europa ? neen ! ouni Russland geht et nett , et geht emmer nemmen em Geld an Macht. Aarmt Reicht Europa, Europa wert am Chaos önner goen , Traureg Welt.

mackel
5. Dezember 2022 - 13.54

Här Asselborn ech sinn komplett matt aerer Siecht d’accord. Ech verstinn och dass dir matt der aktueller Situation kéng Ro hutt well ett ass wirklech bedenklech em eis Demokratie an Errungenschaften. Ett sinn Fehler gemeet ginn daat helleft eis awer an der Momentaner Situation nett an ett huet och kén Zweck en schéllechen vir dei Fehler ze sichen well waat geschitt ass kann nett mei reckgängech gemeet ginn. Waat elo gefroot ass dass d’Laenner dei EU bilden nett ennersech ze vill egoistech denken vir aus desser Situation nach Kapital ze schloen. Mir kennen dess Situation nemmen verbesseren wann dei ganz EU Laenner geént bleiwen, ké Land daerf virperschen, matt Ennerstetzung vun den Amerikaner an éng oppen Dir hunn fir China. Daat ass vir mech den énzeche Wee vir aus dem Schlamassel eraus ze kommen.

dmp
5. Dezember 2022 - 10.22

Hierzu gäbe es noch einiges zu erläutern und zu ergänzen ... Zum Beispiel: Warum wurden die Warnungen einiger Länder, die mit Russland explizite Erfahrung haben, all die Jahre hochnäsig ignoriert? Oder auch: Warum ist es westlichen Diplomaten wichtiger gewesen, gute wirtschaftliche Verbindungen zu Russland zu unterhalten, denn die seit langem offensichtlichen Defizite der Menschenrechtslage in Russland offen zu kritisieren und "Konditionen" zu stellen, die Russland zu demokratischen Prinzipien "motivieren" würden, wenn sie weiterhin mit dem Westen im Geschäft bleiben wollen? Das Gespräch mit Asselborn ist offensichtlich zu kurz gewesen, um auf solche Aspekte einzugehen. Das Versagen der westlichen Diplomatie, und die daraus (hoffentlich) gewonnenen Lehren hätten durchaus thematisiert werden sollen, nein, müssen.

Romain C.
5. Dezember 2022 - 8.26

Die Demokratien sind zum Auslaufmodell geworden! Das auserwählte Weltbeherrschende Volk werden wohl eher die Chinesen sein als die antikommunistischen USA, deren Demokratie in grosser Gefahr ist.....