„Du, ich bin alte Schule“

„Du, ich bin alte Schule“
(Tageblatt/Jeff Lahr)

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Jens Voigt ist 39 Jahre alt und somit nicht nur der älteste Fahrer im Team Leopard-Trek, sondern einer der ältesten überhaupt im professionellen Radsport.

Der Deutsche hat nur einen Vertrag bis Saisonende unterschrieben und denkt daran, seine Karriere eventuell mit einem Sieg bei der Tour de France zu beenden. Wohlgemerkt, einem Sieg von einem der beiden Schleck-Brüder. Jens Voigt ist aber auch einer der sympathischsten Fahrer allgemein im Feld. Bei den „Leoparden“ ist er ein „capitaine de route“, jemand, der die Mannschaft führen soll. In seiner langen Karriere hat Jens Voigt allerdings auch die Gefahren des Radsports kennen gelernt. Wer erinnert sich nicht an die Bilder aus der Tour de France 2009, als er dem Tod bei einem Sturz in einer Abfahrt gerade eben noch von der Schippe springen konnte. Ehe das folgende Interview losging, holte sich Jens Voigt bei „T“-Fotograf Jeff Lahr übrigens erst mal minutenlang Informationen über seine Spiegelreflexkamera ein, mit welcher er derzeit etwas im Clinch liegt.

Jens Voigt: „Ich habe mir gesagt: Ich möchte nicht, dass so ein freaky accident entscheidet, es ist jetzt Schluss.“

Jens Voigt, Steckbrief

o Geboren am 17. September 1971
o Familienstand: Siehe erste Interview-Frage
o Wohnort: Berlin
o Profi seit 1997
o Bisherige Teams: Giant, Crédit Agricole, CSC/Saxo Bank, seit 2011 Leopard-Trek
o Wichtigste Erfolge: Sieger des Critérium International 1999, 2004, 2007-09; Sieger der Deutschland-Tour 2006 und 2007; Etappensiege bei der Tour de France 2001 und 2006; 2 Tage in Gelb (2001, 2005); Etappensieg beim Giro dItalia 2008
o Fakten: Bekannt als „Ausreißerkönig“ und unermüdlicher Helfer; bestritt 2010 seine 13. Tour de France (10x im Ziel)

Aktuelles

– Im LEO-Trainingslager auf Mallorca war am Montag offiziell Ruhetag, die Fahrer drehten je nach Lust und Laune ein paar Runden, um die Beine locker zu bekommen für die zwei noch ausstehenden längeren Trainingsfahrten.
– Im Gespräch mit „cyclingnews.com“ wurden die Schlecks auf eine mögliche Präsenz im Team von Kim Kirchen angesprochen. Ehe dieser nicht volle Klarheit über seinen Gesundheitszustand hat, wollen sich die Brüder verständlicherweise nicht konkret darüber äußern.
– In der Nacht auf Dienstag wurde in Australien die erste Etappe der Tour Down Under mit u.a. dem Team Leopard-Trek gefahren.

Tageblatt: Nachträglich noch herzlichen Glückwunsch zur Geburt deines sechsten Kindes. Hellen, wenn ich mich nicht täusche. Kannst du mir jetzt, aus dem Stegreif, Namen und Geburtsdaten deiner sechs Kinder nennen?

Jens Voigt: „Na klar. Der Marc wurde geboren am 10. November 1995, Julian am 22. Juli 1999, Adriana am 16. Juni 2003, dann die Kim Elena am 31. Mai 2005 und Maja ist geboren am 6. November 2007, und jetzt komm ich ins Straucheln. Die Hellen Marie ist am 8. Januar geboren.“

Siehst du dich selbst eher als glücklicher Familienvater oder überwiegt doch der Radprofi, welcher 250 Tage im Jahr unterwegs ist?

J.V.: „Hm, nee, das passt ganz gut. In der Nachsaison war ich fast drei Monate zu Hause. Ich denke, am Ende des Jahres hab ich genauso viel Zeit mit meinen Kindern verbracht wie ein Vater, der jeden Tag um 8.00 Uhr zur Arbeit geht und um 16.00 Uhr nach Hause kommt. Meine Zeit ist nur anders verteilt. Wenn ich sonntags von einem Rennen nach Hause komm, dann fahr ich montags entweder nicht oder nur anderthalb Stunden, quasi als aktive Erholung. Ich kann meine Kinder zur Schule bringen, fahr trainieren, dann mit der Frau in die Stadt zum Kaffeetrinken, Kinderabholen und du bist frei.“

Das Team ist dir als Familienmensch aber umso wichtiger?

J.V.: „Ich bin einer der glücklichen Menschen auf dieser Welt, die ihr Hobby zum Beruf machen konnten. Weil es eben ein harter Sport ist, ist es wichtig, in einer Umgebung arbeiten zu können, wo es Spaß macht. Stell dir vor, du denkst: ‚Ey, jetzt muss ich schon wieder zum Rennen, zu all den Idioten.‘ Das geht ja gar nicht.“

Du sagst harter Job. Aber auch gefährlich. Du warst dem Tod nahe. Kannst du frei über deinen Sturz 2009 bei der Tour de France sprechen?

J.V.: „Für die Familie war es damals vor allem sehr hart. Weil es so lange gedauert hat, bis die Informationen von mir bekommen haben. Erst lag ich auf der Straße, dann im ersten Hospital, die haben dann gesagt: ‚Nee, ist uns zu schwierig. Dafür sind wir nicht ausgerüstet.‘ Dann mit dem Helikopter nach Grenoble. Die wussten, was zu tun war. Die haben Kim Andersen jede Stunde angerufen und erzählt, wie es aussieht. Zunächst war es: Er wird nicht sterben. Dann: Es ist ernst, aber er ist ansprechbar. Dann: Er wird nicht gelähmt sein. Abends um zehn erst, konnte ich meine Frau anrufen und ihr sagen: ‚Hallo, mach dir keine Sorgen. Ich weiß, wer du bist, wie die Kinder heißen. Ich brauch nur Zeit.’“

Was weißt du noch vom Sturz?

J.V.: „Ich weiß nur noch, was ich Sekunden zuvor gedacht habe.“

Darf man das erfahren?

J.V.: „Ja. Wir sind über den Berg gefahren. Wir waren ja ganz vorne mit Armstrong, Contador und den beiden Schlecks. So zehn, zwölf Mann. Da meinte Bjarne (Riis) über Radio zu mir: ‚Mach nicht alles alleine, die anderen können auch was arbeiten, mithelfen.‘ Also lass ich mich nach hinten fallen, um frische Trinkflaschen zu holen, und am Schluss versuchen wir dann zu dritt, die Etappe zu gewinnen. Danach weiß ich nichts mehr, bis im Ambulanzfahrzeug. Da dachte ich mir: ‚Wie zum Geier komm ich hierher?‘ Und dann kam: ‚Oh, warum tut mir alles so weh?’“

Hast du dir den Sturz schon mal angesehen?

J.V.: „Du, ich bin alte Schule. Ich brauch keinen Psychologen oder so.“

Welche Verletzungen hattest du genau?

J.V.: „Das Schlimmste war das Hämatom im Gehirn. Acht Wochen konnte ich gar nix machen, war wie ein alter Mann. Ansonsten hatte ich im Gesicht mehrere Brüche. Das Jochbein an mehreren Stellen, hinten an der Kiefernhöhle, viele tiefe Abschürfungen an den Knien, Hüfte, Händen, Gesicht, die alle genäht wurden.“

Gedanken ans Karriereende?

J.V.: „Nein, ich bin ein großer Anhänger der Theorie: Du selbst entscheidest über dein Schicksal. Du kannst dein Glück schmieden. Ich hab mir gesagt: ‚Ich möchte nicht, dass so ein freaky accident entscheidet, es ist jetzt Schluss.‘ Ich hab mich dem Problem gestellt und bin nicht weggelaufen. Ich wäre ein unglücklicher alter Mann geworden. Das sah meine Frau auch so.“

Du giltst als Freund der Schlecks. Wie sieht eure Beziehung aus?

J.V.: „Ich bin sieben Jahre bei CSC, Saxo Bank gewesen. Fränky war noch ein Jahr länger dort und Andy kam mit mir als Stagiaire. Ihre Entwicklung ist so wunderschön. Anfangs kamen die zu mir und fragten: ‚Oh, wie machst du das und das?‘ Dann gibst du ihnen Tipps, auch Einstellungen zum Leben. Was ist wichtig? Die Einstellung zum Leben und Freundschaft. Und dann siehst du: Hey, der ist genau so gut wie ich. Und dann: Okay, der ist besser. Mich freut, dass ich ein bisschen mitgeholfen hab dabei. Ich hab Franks Stürze gesehen und er meine. Er hat 2009 nach meinem Sturz sogar Ärger gehabt mit Bjarne Riis. Der wollte ihm unterwegs nicht sagen, wie es um mich bestellt war. Nach dem Rennen wurde er zur Anti-Doping-Kontrolle ausgelost. Als er da fertig war, hat ihn ein Journalist gefragt: ‚Was denkst du: dass Jens Voigt sterben wird?‘ Da war er sauer auf Bjarne.“

Ihr seid richtige Freunde.

J.V.: „Ja, ich sag ihm, wie man Windeln wechselt. Wir gehen zusammen zur Jagd. Oder wir saßen abends zusammen und haben Poker gespielt. Dann bringt mal einer heimlich eine Flasche Wein mit …“

Packst du es ins Tour-Team?

J.V.: „Die Tour ist kein Geschenk, das vorneweg. Meiner Meinung nach sind die Schlecks, Fabian (Cancellara) und Jakob (Fuglsang) gesetzt, egal, was passiert. Ich versuche ins Team zu kommen. Aber dafür musst du dir auch sagen: Ich brenne, ich bin bereit, für die zu sterben auf dem Rad. Aber dieses Geben und Nehmen, es ist vorhanden. Die haben mir auch schon oft geholfen, z.B. die Deutschland-Tour zu gewinnen. Es ist ein Geben und Nehmen.“

Wäre es ein Traum, auf dem Höhepunkt abzutreten, mit Andy oder Frank als Tour-Sieger? Dass du dir sagst: Höher und weiter kann ich die beiden nicht mehr führen?

J.V.: „2008 haben wir die Tour mit Carlos Sastre gewonnen und mit den beiden im Team. Da war ich 36 und da meinte ich: ‚Es kann nicht mehr besser werden.‘ Wir haben Etappen gewonnen, die Mannschaftswertung, die Einzelwertung und wir standen alle oben. Alle neun, das erlebt man auch nicht oft. Aber ja, du hast recht: In Paris könnte ein wunderschönes Kapitel Radsport für mich enden. Ein Happy End wäre das.“