Deutschland„Ampel“ in Bedrängnis, AfD im Höhenflug – Die Bedeutung der Wahlen für die Bundesparteien

Deutschland / „Ampel“ in Bedrängnis, AfD im Höhenflug – Die Bedeutung der Wahlen für die Bundesparteien
Friedrich Merz mit den Spitzenkandidaten seiner Partei für die Landtagswahl, dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer und dem Thüringer Mario Voigt. Merz positionierte seine CDU als „das letzte Bollwerk aus der demokratischen Mitte“. Foto: AFP/Odd Andersen

Jetzt weiterlesen! !

Für 0.99 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Das massive Erstarken von AfD und BSW und das Debakel der Ampel-Parteien bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen erschüttern die politische Szene in Berlin.

Angesichts kritischer Fragen auch an die Rolle von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gab es am Montag aus der SPD-Spitze Aufrufe zur Geschlossenheit. Einige FDP-Politiker stellten dagegen die Regierungsbeteiligung ihrer Partei offen in Frage. In der Union wird eine baldige Entscheidung über eine Kanzlerkandidatur erwartet.

Bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen unterboten SPD, Grüne und FDP ihre ohnehin schon mageren Ergebnisse der vorherigen Urnengänge, während die Wahlsiege an die CDU und die AfD gingen. Bitter verlief der Wahlabend auch für die Linke – das BSW dagegen feierte wenige Monate nach seiner Gründung einen Doppelerfolg.

Scholz wertete die Wahlergebnisse für seine Partei von jeweils unter zehn Prozent als „bitter“. Er pochte auf eine weiterhin klare Abgrenzung zur AfD: „Alle demokratischen Parteien sind nun gefordert, stabile Regierungen ohne Rechtsextremisten zu bilden“, betonte der Kanzler bei Facebook. Die SPD ist aber, anders als befürchtet, aus keinem der beiden Landtage geflogen. In Thüringen fuhr sie ihr schlechtestes Landesergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik ein.  

Juso-Chef Philipp Türmer wollte sich nicht auf Scholz als Kanzlerkandidat seiner Partei für die Bundestagswahl 2025 festlegen. Zunächst müssten Inhalte der Partei geklärt werden, erst dann „auch Personalfragen“, sagte er RTL und ntv. 

Klimaschutz muss „sozialer werden“

Die Grünen werteten die Ergebnisse der Landtagswahlen als „historische Zäsur“ und riefen zur Verteidigung der Demokratie auf. Parteichefin Ricarda Lang räumte ein, es sei der Ampel-Regierung nicht gelungen, „eine neue Stabilität in diesem Land zu verankern“. Künftig müssten die Regierungsparteien vor allem stärker die „soziale Sicherheit nach vorn stellen“. Auch der Klimaschutz müsse „sozialer werden“. Die Grünen verpassten in Thüringen den Wiedereinzug in den Landtag. In Sachsen übersprang die Partei die Fünf-Prozent-Hürde nur knapp

Für die FDP waren die Landtagswahlen ein Absturz in die Bedeutungslosigkeit: In Thüringen fiel sie auf 1,1 Prozent, in Sachsen gar unter 1,0 Prozent, in den Ergebnislisten am Wahlabend tauchten die Liberalen oft gar nicht mehr auf. Grund zur Selbstkritik sehen Parteichef Christian Lindner oder Thüringens FDP-Spitzenkandidat Thomas Kemmerich jedoch deswegen nicht. Die FDP macht für ihren Absturz das schlechte Image der Ampel-Koalition verantwortlich. „Die FDP befindet sich in der Defensive als Teil einer Koalition, die bei den Bürgern äußerst unbeliebt ist“, sagte Parteichef Christian Lindner. Gleichwohl will er an dem Regierungsbündnis festhalten. 

In der Union waren die Wahlen ein wichtiger Stimmungstest für CDU-Chef Friedrich Merz vor der Entscheidung über die Kanzlerkandidatur der Union. Dass er hier womöglich nicht unangefochten ist, machte CSU-Chef und Bayerns Regierungschef Markus Söder klar: „Für mich ist Ministerpräsident das schönste Amt, aber ich würde mich nicht drücken, Verantwortung für unser Land zu übernehmen“, sagte er. CDU-Chef Friedrich Merz reagierte gelassen auf die Wortmeldung aus Bayern.

Merz positionierte seine CDU am Montag als „das letzte Bollwerk aus der demokratischen Mitte“, und er kündigte an, bei seiner Forderung nach einer restriktiveren Asylpolitik nicht lockerzulassen. In den kommenden Wochen muss Merz allerdings noch einige Probleme meistern: Seine CDU will die Regierungen in Thüringen und Sachsen anführen, ist dabei möglicherweise aber auf die Unterstützung schwieriger Partner wie dem BSW und der Linken angewiesen. 

Ergebnis „mit Demut und Respekt“ annehmen

BSW-Chefin Sahra Wagenknecht sah im Ausgang der Landtagswahlen eine Folge der Politik der „Ampel“. Diese sei „zu Recht abgestraft“ worden, weil sie an den Menschen vorbei regiere, sagte sie. Wagenknecht legte Scholz nahe, im Bundestag die Vertrauensfrage zu stellen.

Linken-Chef Martin Schirdewan warnte seine Partei nach den herben Einbußen und dem absehbaren Verlust des Ministerpräsidentenpostens in Thüringen davor, „in Panik zu verfallen“. Die Linke müsse das Ergebnis „mit Demut und Respekt“ annehmen und sich nun erneuern.

AfD-Chefin Alice Weidel erhob für ihre Partei den Anspruch auf Regierungsbeteiligungen. „Der Wähler hat uns in Thüringen und Sachsen einen klaren Regierungsauftrag gegeben“, sagte sie. Die Brandmauer der Union sei undemokratisch, das Wählervotum dürfe nicht ignoriert werden.

Die AfD wurde in Thüringen laut dem vorläufigen Endergebnis mit 32,8 Prozent stärkste Kraft. Die CDU folgt mit deutlichem Abstand mit 23,6 Prozent. Das BSW erreichte 15,8 Prozent. In Sachsen blieb die CDU mit 31,9 Prozent stärkste Partei – dicht gefolgt von der AfD mit 30,6 Prozent. Das BSW erreichte hier 11,8 Prozent.

Die AfD konnte in beiden Ländern allen Parteien Wähler abnehmen, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Abgeben musste die AfD frühere Wähler nur in eine Richtung – an das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Am meisten Zulauf bekam die AfD aber aus dem Lager der bisherigen Nichtwähler. In Sachsen und Thüringen kam deutlich mehr als die Hälfte der hinzugewonnen Wähler aus diesem Lager.

Die CDU sieht sich nun in der Verantwortung, gegen die in beiden Ländern als gesichert rechtsextremistisch eingestufte AfD stabile Regierungen zu bilden. Parteichef Merz erneuerte auch die generelle Absage seiner Partei an eine Zusammenarbeit mit der Linken. 

Innere Sicherheit und Migration

Die AfD profitiert von Unzufriedenheit bei innerer Sicherheit und Migration. Infratest dimap befragte Wähler in beiden Ländern, welches Thema ihnen am wichtigsten ist. Die drei wichtigsten Themen: Zuwanderung, Kriminalität/innere Sicherheit und soziale Sicherheit. Die wirtschaftliche Lage kam in Sachsen nur auf Platz vier, in Thüringen auf Platz fünf. Das Thema Ukraine/Russland landete in beiden Ländern auf den hinteren Plätzen. Gerade bei den Themen Migration und Kriminalität konnte die AfD punkten und die CDU in der Frage nach der Parteienkompetenz überflügeln. Mit ihrer migrationskritischen Haltung fand die AfD über die eigene Wählerschaft hinaus Anklang: 58 Prozent der Befragten in Thüringen und 59 Prozent in Sachsen bezeichneten es prinzipiell als gut, dass die AfD Zuwanderung begrenzen will. In beiden Ländern findet die AfD über fast alle Altersgruppen hinweg stabilen Zuspruch – nur bei den Wählern über 70 ist sie weniger beliebt, hier dominiert weiter die CDU.

Politisches Gewicht

An der AfD im Thüringer Landtag kommen die anderen Parteien nun nicht mehr vorbei: Der vom Verfassungsschutz als erwiesen rechtsextremistisch eingestufte Landesverband verfügt im neuen Landtag über 32 der 88 Sitze und damit über mehr als ein Drittel der Mandate. Damit hat die Partei eine sogenannte Sperrminorität – und damit weitreichenden politischen Einfluss. Auch in Sachsen stand dieses Szenario nach der zeitgleichen Landtagswahl vom Sonntag im Raum. Dort kommt es allerdings nicht dazu.
In Thüringen ist eine Zweidrittelmehrheit aller gewählten Abgeordneten nötig, um den Landtag aufzulösen und damit den Weg für eine Neuwahl zu bereiten. Mit ihren Stimmen könnte die AfD einen solchen Schritt verhindern. Auch Verfassungsänderungen, die Wahl des Präsidenten und der Richter des Thüringer Verfassungsgerichtshofs und die Wahl des Präsidenten und des Stellvertreters des Landesrechnungshofs verlangen eine Zweidrittelmehrheit. Die Besetzung dieser wichtigen Posten könnte die AfD mit ihrer Sperrminorität blockieren.
Die AfD als stärkste Fraktion hat laut Geschäftsordnung das Vorschlagsrecht für den Präsidenten, der das Parlament in allen Angelegenheiten, auch über die Grenzen des Freistaats hinaus, vertritt.