EditorialBitte weiterlesen: Zur Text- und Medienkompetenz in der Gesellschaft

Editorial / Bitte weiterlesen: Zur Text- und Medienkompetenz in der Gesellschaft
 Foto: Editpress/Alain Rischard

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Wer kennt sie nicht, die Clickbait-Titel, die einem in den sozialen Medien immer wieder in die Timeline gespült werden: „Als er das sagte, wusste er nicht, dass das Mikrofon an war!“, oder auch: „Das sind die 10 besten Urlaubsdestinationen, die Sie in ihrem Leben mindestens einmal besuchen sollten“. Und jetzt Hand aufs Herz: Wer hat noch nie auf einen solchen – meist mit anspruchsvollen Bildern bestückten – Artikel geklickt? Ein Trend mit beunruhigendem Ausmaß.

Wer diese Frage ehrlich verneinen kann, hat ein stärkeres Rückgrat als der Autor dieser Zeilen. Denn selbst im Wissen, dass es sich um reißerische Artikel ohne inhaltlichen oder journalistischen Mehrwert handelt, treibt die Neugier und die Angst, etwas zu verpassen, einen dann doch irgendwie dazu, draufzuklicken.

Das wäre auch nicht weiter dramatisch, hätte diese Art von Social-Media-Posts nicht eine beunruhigende Entwicklung angestoßen. Denn: Irgendwann gewöhnt man sich dann doch an die reißerische Art dieser Content-Plattformen und scrollt einfach daran vorbei. Was traditionelle Medienhäuser wiederum in die Bredouille bringt. Denn: Die weitaus weniger sexy gestalteten Artikel, denen eine gründliche und fundierte Recherche zugrunde liegt, fallen dann ebenfalls nicht weiter auf – und werden nicht gelesen.

Dieser Umstand ist nicht neu, weswegen auch traditionelle Medienhäuser ihre Online-Strategien mittlerweile an das Scrolling-Stand-Off auf Facebook, X, Instagram, Tiktok und Co. anpassen mussten. Die Folge: Titel und Artikel-Aufmachungen mussten für das schnelllebige Online-Business attraktiver gestaltet werden. Oder, anders ausgedrückt: mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen, um den potenziellen Leser in Sekundenschnelle zu fesseln. Das, was Clickbait-Content perfektioniert hat, versuchen Journalisten nachzuahmen, ohne dabei ihre Seriosität vollends zu verlieren.

Ein Spagat, der nicht immer gelingt. Das hat einerseits damit zu tun, dass Sensationalismus und seriöser Journalismus an zwei verschiedenen Enden des Medienspektrums liegen. Der Versuch ist aber von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn die Text- und Medienkompetenz der Leserschaft mehr TikTok als Nachrichten, mehr Insta als Printzeitung entspricht.

Forschungen des deutschen Publizisten Markus Reiter zum Leseverhalten haben ergeben, dass Bilder, gefolgt von Bildunterschriften, als Erstes betrachtet werden. An dritter Stelle folgt die Überschrift. Von 100 Zeitungsnutzern schauen 90 auf die Bilder, 40 bis 70 machen sich noch die Mühe, die Überschrift zu lesen, nur 20 bis 60 schaffen es bis zum Vorspann. Gerade einmal 15 bis 60 wagen sich an die mühevolle Aufgabe, den Text tatsächlich zu lesen. Maximal 50, also die Hälfte der Leser, lesen den Artikel dann bis zum Ende.

Bedeutet: Außer der Überschrift und einem kleinen Blick aufs Foto wird meist nicht mehr Kontext mitgenommen oder verlangt, ehe bereits in die Tasten gehauen wird. Fragen, Urteile, Kritik werden an Autor und Medium gerichtet – ungeachtet dessen, dass die Lektüre des eigentlichen Artikels noch aussteht. Daraus folgt nur allzu oft Frustration, sowohl auf Leser- als auch auf Journalistenseite. Demnach pünktlich ein Appell zur Sommerzeit, in der Entschleunigung im Urlaub eh auf dem Programm steht: Nächstes Mal nicht an der Schlagzeile aufhören, sondern einfach mal weiterlesen.

max.l
11. August 2024 - 8.23

wann ëch op een Artikel drëcken, ass ët, dat ëch och meechtens bis zu Enn liësen..
ët ass awer och seelen, dat ëch just nëmmen d'Iwwerschrëft liësen, ass d'Iwwerschrëft dann awer esou wéi z.B. wéi Diir schreiwt :
esou wéi op Facebook, Instagram, Tiktok asw..

do sën ëch nët drun interesséiert

(hun nach Nie gekuckt, just vläicht viiru Jooren, well dat op eemol do war),

ëch hu mat Deenen Näicht um Hut ..

jo, "da staunt der Läie..." dat gët ët och nach..

porcedda daniel m
11. August 2024 - 0.11

Wenn Journalisten sich an TikTok-Methoden anpassen, können sie höhere Klickrates generieren, verlieren jedoch an der Informationsfront.

Dabei ist das Problem nicht der Sender (Journalist), sondern der Empfänger (potentieller Leser). Den Medien steht die Mammutaufgabe bevor, Menschengruppen wieder an „alte“ Lesegewohnheiten heranzuführen. Interesse für erklärende Texte kanalisieren und binden. Ergo Menschen wieder zur Lektüre von tiefergehenden Artikeln zu motivieren. Das kann durchaus als humorvolle „Gesellschaftskritik“ daherkommen. Wer bloß Headlines liest und Bilder betrachtet ist nur zu 10 % informiert und disqualifiziert sich damit für jegliche ernsthafte Diskussion zum Thema … was die Frequenz von Leserkommentaren auf ein verträgliches Maß reduzieren würde.

Viele „Leser“ lesen übrigens auch deshalb nur die Titel, weil allzu häufig der Rest eines Artikels hinter einer Paywall versteckt ist. Ein Dilemma. Jedes Nachrichtenmedium hat seine eigenen Abonnements. Wenige Leser sind willig, ein halbes Dutzend oder mehr Online-Abonnements zu finanzieren. Nun wäre es (theoretisch) eine Möglichkeit, dass sich die großen Medienhäuser zusammenschließen würden und ein Gesamt-Abonnement, resp. ein Kombi-Angebot, anbieten würden. Ein (1) Abonnement, mehrere Zeitungen. Ein Verteilerschlüssel, welches Haus wieviel vom Kuchen bekommen sollte, müsste erarbeitet werden. Wären die Abo-Kosten verträglich (entsprechend gering), würde zwar pro Abonnement weniger Geld fließen, jedoch könnte die Quantität an Abonnenten dies mehr als wettmachen.

Früher, also vor dem Internetzeitalter, wurden „Zeitungen“ oft integral gelesen. Schließlich hatte man das bedruckte Papier ja gekauft und bezahlt. Da wollte man kein Geld wegwerfen. Die „Konkurrenz“ war allerdings bedeutend übersichtlicher. Der dramatische Wandel im Mediensektor mit neuen Formen der Informationsübermittlung sollte die Medienhäuser zum Umdenken bewegen, was ihr grundsätzliches Geschäftsmodell betrifft. Kooperationen könnten eine Möglichkeit sein, guten Journalismus weiterhin finanzieren zu können. Bereits bei den Musketieren hieß es: L’union fait la force.