RusslandDie Angst, Telegram zu verlieren, treibt die Proteste für die Freilassung Pawel Durows an

Russland / Die Angst, Telegram zu verlieren, treibt die Proteste für die Freilassung Pawel Durows an
Ohne Telegram würden sich die Kommunikationswege in Russland drastisch verschlechtern Foto: AFP

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Sowohl russische Propagandisten als auch oppositionell Eingestellte fordern die Freilassung des in Paris festgenommenen Telegram-Gründers Pawel Durow. Woher dieser Konsens?

Selbst russische Momfluencerinnen schlagen in ihren eher unbedeutenden Telegram-Kanälen Alarm. „Durow ist im Knast! Wo können wir uns nur austauschen?“ Ähnlich Alarmistisches ist auch bei russischen Propagandisten zu lesen. Auch oppositionell eingestellte Russinnen und Russen, viele von ihnen seit der russischen Invasion in der Ukraine im Exil lebend, äußern Besorgnis und fordern „Freiheit für Durow!“ Und selbst das russische Außenministerium setzt sich für die Freilassung Pawel Durows ein.

Der 39-Jährige, der neben seiner russischen auch die französische Staatsbürgerschaft besitzt und seit Jahren in Dubai lebt, war am Samstagabend in Paris festgenommen worden. Er soll sich geweigert haben, mit den französischen Behörden zusammenzuarbeiten, heißt es. Offizielle Angaben zu der Festnahme gibt es allerdings nicht. Telegram selbst weist jegliche Vorwürfe als „absurd“ zurück und bekräftigt, alle geltenden europäischen Regeln einzuhalten.

35 Millionen Nutzer in Russland

Die große Einigkeit zwischen kremlloyalen Propagandisten und russischen Oppositionellen mutet fast schon grotesk an. Doch das nur auf den ersten Blick. Denn sie alle hätten durch eine befürchtete Verschlechterung der Nutzung einiges zu verlieren, wenn auch auf unterschiedliche Arten. Die Telegram-App funktioniert eigentlich wie WhatsApp. Und doch ist sie mehr. Die Kommunikation lief von Anfang an verschlüsselt. Durch seine „Kanäle“ ist Telegram zu einer Art Medium geworden. 35 Millionen Nutzer soll es allein in Russland geben, weltweit, so die Angaben von Telegram, seien es 950 Millionen.

Ohne Telegram funktioniert in Russland keine Berichterstattung. Jedes unabhängige Medium im Land – und auch außerhalb des Landes – bewirtschaftet seinen eigenen Informationskanal. Auf andere legale Weise ist dies durch die Zensurgesetze seit März 2022 unmöglich. Auch einzelne Journalisten nutzen den Dienst, um die Menschen darüber zu informieren, was im staatsnahen russischen Fernsehen nicht gezeigt wird. Auf Telegram ist die Eilmeldung schneller da als bei konventionellen Medien. Videos aus Gerichtssälen, wo wieder einmal jemand wegen des politisch motivierten Paragrafen „Diskreditierung der russischen Armee“ zu Jahren hinter Gittern verurteilt wird, finden sich hier genauso wie Aufrufe, Politgefangenen Briefe zu schreiben. Da russische Behörden soziale Netzwerke wie Facebook und Instagram gesperrt haben und mittlerweile auch Apps wie Signal oder WhatsApp sowie YouTube immer wieder blockieren, empfinden die, die noch irgendeine Art unabhängige Information an die Menschen bringen wollen, und die, die diese auch erhalten wollen, die Festnahme Durows als Schlag. Sie nennen das ein „Geschenk an Putin“ und befürchten, dass die Telegram-Nutzung nun ebenfalls erschwert werden könnte.

Genauso wie unabhängige Journalisten schätzen allerdings auch Propagandisten, die der Ukraine den Tod wünschen, Telegram. Sie stellen Videos von Zerstörungen im Nachbarland, unterlegt mit menschenverachtenden und hetzerischen Aufrufen, den „Feind“ zu „massakrieren“, zur Verfügung. Wie auch in Europa nutzen zudem Islamisten die geschlossenen Chats, um ihre Verbrechen zu planen, oder Verschwörungstheoretiker die Plattform, um weitere Verschwörungen zu verbreiten. Aber auch die russische Armee kommt kaum ohne Telegram aus. Die App ist das Kommunikationsmittel schlechthin zwischen den einzelnen Einheiten. Auch deshalb ist die Sorge unter den Kremlloyalen und den sogenannten Kriegsbloggern groß, dass es Telegram an den Kragen gehen könnte. Deshalb schreiben sie oft, dass Durow einen Fehler gemacht habe, Russland – „das freieste Land der Erde“ – 2014 verlassen zu haben. Oder wie es Dmitri Medwedew, der einstige russische Präsident – selbstredend in seinem Telegram-Kanal – ausdrückt: „Durow wollte ein genialer Weltenbürger sein, der auch ohne sein Vaterland bestens leben kann. Er hat sich verrechnet.“