StandpunktDrei Mythen, die den Westen heimsuchen

Standpunkt / Drei Mythen, die den Westen heimsuchen
Wäre Macron auch ohne eine starke Marine Le Pen Präsident geworden oder ist Marine Le Pen nur so stark, weil Macron Präsident ist? Foto: AP/Yara Nardi

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Tragfähige Systeme spiegeln sich in selbstsicheren Eliten wider. Heute sind die Eliten auf beiden Seiten des Atlantiks alles andere als selbstsicher. Seit einem Jahr reiben sie sich ungläubig die Augen, dass die Dinge so gekommen sind, wie sie gekommen sind. In seinem Gastbeitrag räumt Yanis Varoufakis unter anderem mit dem Mythos des angeblich „undankbaren Durchschnittswählers“ auf.

In den Vereinigten Staaten sind die Anhänger der politischen Mitte entsetzt darüber, dass die breite Masse anscheinend derart undankbar für die wirtschaftlichen Erfolge von Präsident Joe Biden ist, dass sie zu Donald Trump tendiert. In Europa sorgen die beeindruckenden Zugewinne von Spielarten des Trumpismus auf Kosten liberaler Ikonen wie dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und den deutschen Grünen für vergleichbare Verzweiflung.

Die Tatsache, dass drakonische Sanktionen der russischen Wirtschaft keinen Dämpfer versetzt haben, und die Widerstandsfähigkeit, die chinesische Technologieunternehmen angesichts strenger Sanktionen an den Tag legen, rufen im Westen eine Mischung aus Nihilismus und Hurrapatriotismus hervor. Die kollektive Frustration der westlichen Anhänger der politischen Mitte, die ihre Hegemonie einst für selbstverständlich hielten, wird von drei Mythen unterfüttert.

Der erste Mythos ist, dass die politische Mitte definitionsgemäß der größte Feind der extremen Rechten ist. Der zweite ist der eines repräsentativen Vertreters, eines sagenumwobenen „Durchschnittswählers“, der die Wahlen entscheidet. Der dritte ist, dass Sanktionen und Zölle China und Russland aufgrund ihrer Abhängigkeit von westlicher Technologie, westlichem Kapital und westlichen Zahlungssystemen aufhalten würden.

Symbiotische Macht

Jeder dieser Mythen ist mehr als nur falsch; sie führen allesamt in die Irre. Sie zu entlarven, ist ein notwendiger, wenn auch unzureichender Schritt, um die Gegenwart zu verstehen. Beginnen wir mit dem Mythos eines mächtigen Zusammenstoßes zwischen der Mitte und der extremen Rechten und fragen: Wäre Macrons Aufstieg aus dem Nichts zum Präsidenten Frankreichs möglich gewesen, wenn Marine Le Pen und ihr Front national (wie er damals hieß) keine starken Herausforderer gewesen wären? Nach allem, was man hört, nein. Aber wäre jemand wie Le Pen zu einer starken Herausforderin geworden, wenn nicht jemand wie Macron eine Politik verfolgt hätte, die die ohnehin schon Superreichen begünstigt (durch Steuersenkungen und massives Gelddrucken) und gleichzeitig zulässt, dass Sparmaßnahmen mindestens der Hälfte der Bevölkerung einen enormen Tribut abverlangen? Auch hier: nein.

Es besteht zwar kein Zweifel, dass Macron und Le Pen – ähnlich wie die Demokraten und Trump in den USA – einander verabscheuen, doch ihre Macht ist symbiotisch. Die Politik der politischen Mitte, die auf Staatssozialismus für die Allerwenigsten und Austerität für die Vielen setzt, nährt die neofaschistische Rechte, deren Aufstieg wiederum den Anspruch der Mitte stärkt, das einzige Bollwerk gegen den Neofaschismus zu sein.

Nun betrachten wir den Mythos des undankbaren Durchschnittswählers, der die robuste Erholung der westlichen Volkswirtschaften nach der Pandemie einfach vom Tisch fegt. Die einzigen Menschen, die Macrons politische Kernschmelze verblüffend finden oder der breiten Masse in den USA vorwerfen, die großartige Wirtschaft, die Biden ihnen beschert hat, nicht zu schätzen zu wissen, leben in einer Welt der Tabellenkalkulationen mit Pro-Kopf-Statistiken und makroökonomischen Daten. Für sie macht ein Dezimalpunkt BIP-Wachstum hier und ein Prozentpunkt weniger Arbeitslosenquote dort den entscheidenden Unterschied aus.

„It’s the economy, stupid“

1992 lautete Bill Clintons Wahlkampf-Mantra „It’s the economy, stupid“. Es kommt immer noch auf die Wirtschaft an. Aber heute lautet die Frage: Wessen Wirtschaft? Wenn man Menschen, die jeden Pfennig zweimal umdrehen, fragt, warum sie in einer Zeit, in der das BIP wächst, wütend sind, antworten sie: „Vielleicht wächst Ihr BIP, aber meines nicht.“ Wenn man ihnen sagt, dass sich die Inflation abgeflacht hat, kontern sie: „Vielleicht steigen eure Preise nicht, aber die, die ich zahle, gehen durch die Decke!“ Offen gesagt ist es also vollkommen logisch, dass in unserer Welt nach 2008 die Lebensperspektiven der meisten Menschen inmitten glänzender makroökonomischer Daten schwinden.

Nachdem die westlichen Eliten der politischen Mitte ihre Hegemonie über die eigene Bevölkerung überschätzt hatten, überschätzten sie auch ihre Macht über externe Feinde, insbesondere Russland und China. In beiden Fällen war das Ergebnis der Ausübung dieser unbestreitbar großen Macht genau das Gegenteil von dem, was beabsichtigt war.

Im Falle Russlands erwiesen sich die beispiellosen westlichen Sanktionen als Reaktion auf die Invasion in der Ukraine für Präsident Wladimir Putin als Geschenk des Himmels. Seine größte Schwäche war seine eingeschränkte Autorität gegenüber den russischen Oligarchen, die ihre Wetten absichern konnten, indem sie den Großteil ihrer Beute im Westen aufbewahrten. Doch die Sanktionen gaben Putin die Möglichkeit, sie zu zwingen, sich zwischen Russland und dem Westen zu entscheiden, der ihnen dieses Ultimatum mit der Aussicht auf die Übernahme lukrativer Unternehmen (wie McDonald’s oder IKEA) versüßte, die von westlichen Konzernen aufgegeben wurden.

Darüber hinaus führte die von den westlichen Lieferketten abgeschnittene Kriegswirtschaft Russlands zu einer massiven Reindustrialisierung. Diese Bemühungen machten den starken Verlust an importierten Zwischenprodukten und den damit verbundenen Preisanstieg mehr als wett.

Leistungsschwach zurückgelassen

Chinas Widerstandsfähigkeit war für die politischen Entscheidungsträger in Washington eine noch größere Enttäuschung, die geglaubt hatten, dass Bidens CHIPS and Science Act, der den Verkauf moderner Halbleiter an chinesische Unternehmen für jedermann (nicht nur für Amerikaner) untersagte, Chinas Big-Tech-Firmen entscheidend schwächen und den USA helfen würde, den Zweiten Kalten Krieg zu gewinnen. Huawei setzte verbesserte Software ein, um mehr Rechenleistung aus kleineren Mikrochips herauszuholen, während das Unternehmen und andere einheimische Chiphersteller Anstrengungen unternahmen, um Rückstände bei der Hardware aufzuholen. In der Zwischenzeit wurden die amerikanischen und europäischen Behörden von der Flut preiswerter und technologisch überlegener Elektrofahrzeuge und umweltfreundlicher Energieanlagen überrumpelt.

Der vielleicht schwerste Schlag für die Zuversicht der westlichen Eliten erfolgte nach der Verhängung der Sanktionen, während sie sich bemühten, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass es zur Rückverlagerung der Produktion aus dem Ausland kommt und Arbeitsplätze geschaffen werden. Erst dann dämmerte ihnen allmählich, dass 30 Jahre Desinvestition im eigenen Land, sowohl in die verarbeitende Industrie als auch in die Fähigkeit ihrer Staaten, Dinge geregelt zu bekommen, den Westen leistungsschwach zurückgelassen hatten. Wohin wir auch blicken – ob in die USA, ins Vereinigte Königreich oder in die Europäische Union – wir stellen fest, dass Staaten das früher vorhandene Know-how abhandengekommen ist, Dinge zu bauen; angefangen bei der britischen Eisenbahn und dem amerikanischen Atom-U-Boot-Programm bis hin zu grüner Energie, öffentlicher Gesundheit und vielem anderen mehr.

Der Kontrast zu den Entwicklungen in Russland und China lastet somit schwer auf den politischen Entscheidungsträgern im Westen, die jahrzehntelang von Unternehmenslobbyisten und assoziierten Thinktanks verleitet wurden, die Kapazität ihrer Staaten zu schmälern, das zu tun, was getan werden muss. Ob diese bittere Erkenntnis sie dazu bringt, restlos mit den drei Mythen aufzuräumen, die sie so lange verblendet haben, bleibt abzuwarten.


* Von Sandra Pontow aus dem Englischen übersetzt.

Yanis Varoufakis, ehemaliger griechischer Finanzminister, ist Vorsitzender der Partei MeRA25 und Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Athen.

Copyright: Project Syndicate, 2024.

www.project-syndicate.org

Luxmann
3. Juli 2024 - 7.59

Gute analyse von Varoufakis.
Man koennte noch einen 4.mythos beifuegen...naemlich der glauben ,dass eine relativ mittelgrosse aber kleiner werdende gruppe von 6 laendern gefuehrt von europaeern und auswanderern aus europa (denen man noch den seit der hiroshima bombe kolonialisierten gelben mann aus nippon zuprafft) fest ueberzeugt ist dem rest der welt sagen zu muessen wo es lang geht...wobei der rest demographisch viel schneller waechst.