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Forum / Dunkle Wolken über der Demokratie
 Foto: AFP/Bertrand Guay

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Das Jahr 2024 wird als das „Jahr der Wahlen“ in die Geschichte eingehen. In allen Weltteilen konnten oder werden die Bürger ihr theoretisches Grundrecht der freien Wahl ihrer Vertreter in den höchsten Staatsämtern ausüben.

Dennoch kann man nicht von einem Triumph der Demokratie reden. Viele „freie“ Wahlen wurden eingeengt durch eine Manipulation der Kandidaturen. Etwa in Russland, wo Kreml-Chef Putin für seine „demokratische“ Wiederwahl nur vier chancenlose Gegenkandidaten zuließ. In anderen Ländern, von Bangladesch, Pakistan über Senegal bis hin zu Venezuela, schlossen nicht gerade unabhängige Gerichte potenziell erfolgreiche Opponenten von einer Kandidatur aus. So auch in Indien oder in der Türkei, wo Oppositionelle wegen „Beleidigung des Präsidenten“ nicht antreten durften. In Iran standen nur die von der religiösen Führung handverlesenen Kandidaten zur Wahl. Die Kraft der Demokratie führte dennoch zum Sieg eines als moderat geltenden Kandidaten über einen Hardliner des Regimes, das weiterhin fest in den Händen der Ayatollahs bleibt.

Eine „Krönung“ des Jahres der „demokratischen Wahlen“ wird das Duell für das höchste Amt in Washington sein. Der Schatten des polternden Donald Trump wird immer düsterer. Amtsinhaber Joe Biden wirkt dagegen wie vorzeitig mumifiziert.

Demokratie hängt vom Wahlrecht ab

Das demokratische Grundrecht, „eine Stimme für jeden Menschen“, wird durch die jeweils geltende Wahlgesetzgebung eingeengt. In den USA kommt es zu ewigen Zweikämpfen zwischen zwei Lagern, deren Erfolg zu einem bedeutenden Teil von der nicht uneigennützigen Spendenflut der Lobbyisten und anderer Kapitalisten abhängt.

Gibt es „wahre Demokratie“ nur in Europa, wo das Konzept entstand? Zweifel bleiben erlaubt.

In Großbritannien kam es zu einem beeindruckenden Sieg der Labour Party über die konservativen Tories. Doch Sir Keir Starmer, der neue Premierminister, kann keineswegs behaupten, die Mehrheit der Völker des Vereinigten Königreichs hinter sich zu haben. Zwar konnte die Labour Party ihre Sitze in Westminster mehr als verdoppeln, von 202 auf 412 Parlamentarier, womit eine satte Mehrheit im 650 Sitze umfassenden Parlament zustande kam. Das ist vor allem das Resultat des totalen Einbruchs der Konservativen von Rishi Sunak, deren Stimmenanteil um fast 20 Prozentpunkte auf nunmehr 23,7 Prozent aller Stimmen und damit auf bloß 121 Sitze zurückfiel.

Der Erdrutschsieg der britischen Sozialisten ist weniger berauschend, sieht man sich deren Stimmenanteil an. Der gegenüber der letzten Wahl um ganze 1,7 Prozent Prozentpunkte auf 33,7 Prozent aller abgegebenen Stimmen anstieg.

Mit anderen Worten: Labour und Tories vereinnahmten 80 Prozent der Sitze in Westminster mit einem gemeinsamen Total von weniger als 58 Prozent der Stimmen aller britischen Wähler. 42 Prozent der Wähler hatten andere Präferenzen. Das erstaunlichste Resultat erzielten die Liberalen, die sich um bloß 0,6 Prozent auf einen Stimmenanteil von 12,2 Prozent steigerten. Was den Liberalen eine Rekordzahl von 72 Sitzen brachte. Die Protestpartei des „Brexit“-Einpeitschers Nigel Farage erhielt 15 Prozent aller Stimmen, aber bloß vier Sitze. Farages Achtungserfolg war wohl der dickste Nagel zum Sarg der Tories.

Der für einen ausländischen Beobachter befremdlich wirkende Ausgang der britischen Wahlen ist das Resultat des Wahlrechts. In jedem Wahlkreis ist der Kandidat gewählt, der gegenüber all seinen Kontrahenten mindestens eine Stimme mehr erhält. Dieses K.-o.-System bringt meistens stabile Mehrheiten. Selbst wenn die regierende Partei nachher bloß ein Drittel der Wähler repräsentiert.

„Démocratie à la française“

Ist das französische Wahlsystem gerechter? Es darf gezweifelt werden. Im ersten Wahlgang gewinnt in jedem Wahlkreis der Kandidat, welcher mindestens 50 Prozent der abgegebenen Stimmen erhält. Bei den jüngsten Wahlen schafften dies 76 Kandidaten in den 577 Wahlkreisen der „Grande Nation“. In den verbleibenden 501 Wahlkreisen fand eine Stichwahl statt zwischen zwei oder drei der bestgewählten Kandidaten.

Hätte Frankreich das britische K.-o.-Wahlrecht, wäre der Rassemblement National der Marine Le Pen und des Jordan Bardella als großer Gewinner hervorgegangen. Das französische Wahlsystem zwingt zu manchmal widernatürlichen Allianzen. So gab es vor dem ersten Wahlgang Absprachen zwischen den Rechtsextremen (Le Pens Truppen mit dem republikanischen Abtrünnigen Eric Ciotti), den Linken (den „Insoumis“ von Jean-Luc Mélenchon sowie Sozialisten, Kommunisten und Grünen) oder den Truppen von Macrons „Renaissance“, Bayrous „Modem“ und Philippes „Horizons“.

Um zu verhindern, dass Le Pens Rechtsextremisten eine mögliche absolute Mehrheit in der „Assemblée nationale“ erhielten, kam es vor dem zweiten Wahlgang zu einer noch ungewohnteren Zweckallianz zwischen Linken, Zentrum und gemäßigten Rechten gegen den „Rassemblement national“. Mit dem erstaunlichen Resultat, dass der binnen wenigen Tagen zusammengewürfelte „Nouveau Front populaire“ mit einem Stimmenanteil von bloß 26 Prozent nunmehr die meisten Abgeordneten stellt. Zweitstärkste Gruppierung ist Macrons Allianz, mit einem Stimmenanteil von 23,2 Prozent. Drittstärkste Gruppierung wurde Le Pens Truppe, obwohl deren globaler Stimmenanteil selbst im zweiten Wahlgang über 37 Prozent lag (immerhin ein höherer Stimmenanteil als die in Großbritanniens siegreiche Labour Party).

Wahlrecht schafft politische Realitäten, die nicht unbedingt gerecht sind. Bei den letzten Parlamentswahlen in Luxemburg erzielte die LSAP mehr Stimmen als die DP, erhielt aber letztlich zwei Sitze weniger als Bettels Wahlverein. Bei den jüngsten Europawahlen gewann die CSV mit 22,9 Prozent der Stimmen zwei Sitze. Die LSAP kam als Zweitplatzierte auf 21,7 Prozent, musste sich dennoch ohne Restsitz mit einem Sitz begnügen.

Trotz all dieser Mängel und möglicher Ungerechtigkeiten bleiben dennoch freie und geheime Wahlen das „beste von allen schlechten Systemen“, um Winston Churchill zu zitieren.

In Großbritannien fand nunmehr ein friedlicher Machtwechsel statt. In Frankreich ist Macrons ohnehin schwindende Allmacht gebrochen. Selbst wenn eine stabile Regierung außer Reichweite scheint. In den Niederlanden dauert es sieben Monate, ehe eine bizarre Koalition zustande kam, deren Lebensdauer ungewiss bleibt.

Regierungen in Russland, China oder Indien sind stabiler. Aber nicht empfehlenswerter. Direkte Demokratie, wie die Schweiz sie praktiziert, hat auch Unzulänglichkeiten. Bei den sogenannten Votationen überschreitet die Teilnahme der Schweizer Bürger selten die 30-Prozent-Marke. Mehrheiten kommen bei „sexy“ Themen zustande, etwa bei einer Erhöhung der Renten. Selbst wenn deren Finanzierung ungelöst bleibt.

Demokratie ist eine gefährdete Spezies. Weltweit gibt es in Zwischenzeit mehr Autokratien als Demokratien. Ein Grund mehr, die repräsentative Demokratie zu verteidigen.

Robert Goebbels ist ein ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter
Robert Goebbels ist ein ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter Foto: Editpress/Didier Sylvestre