LuxemburgEric Thill: „Als Kulturminister will ich wissen, wo der Schuh drückt“

Luxemburg / Eric Thill: „Als Kulturminister will ich wissen, wo der Schuh drückt“
Kulturminister Eric Thill blickt nach vorne Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

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Der Kulturminister Eric Thill spricht mit dem Tageblatt über die Vergangenheit, die Zukunft und seine Visionen für die luxemburgische Kulturpolitik.

Die Überraschung war groß, als Eric Thill (DP) im Oktober 2023 zum Kulturminister ernannt wurde: Keiner hatte den 30-jährigen Bürgermeister von Schieren als potenziellen Kandidaten für den Posten auf dem Schirm. In seinem Wahlbezirk im Norden landete er bei den Parlamentswahlen auf Platz vier; den Koalitionsverhandlungen wohnte er nicht bei. Als der Anruf von Xavier Bettel (DP) ihn erreichte, saß er in Jogginghose auf dem Sofa. Sieben Monate später empfängt er das Tageblatt im Kulturministerium – im Anzug.

Zwischen Kultur und Tourismus

Thill hat an dem Tag Verspätung: Es gab einen Notfall im Ministerium für Tourismus, das ebenfalls in seinen Zuständigkeitsbereich fällt. Dass Thill beide Dossiers betreut, fällt nicht zuletzt in Bezug auf die diesjährige Tourismussaison in Luxemburg auf, denn sie steht im Zeichen des Kulturtourismus. Die Befürchtung liegt deshalb nahe, dass die Kulturpolitik unter Thill zum Nation Branding instrumentalisiert wird. „Tourismus gewinnt durch Kultur und Kultur durch Tourismus“, kontert Thill. Es brauche Synergien zwischen diesen Bereichen. „Wir können stolz auf die kulturelle Diversität in Luxemburg sein“, ergänzt er. „Das Kulturangebot spiegelt unsere Gesellschaft und die sollten wir Menschen, die Luxemburg aus dem Ausland besuchen, zeigen.“ Auch auf nationaler Ebene sei es wichtig, möglichst viele Menschen für die hiesige Kulturszene und das Kulturerbe – Schlösser, Burgen und so fort – zu begeistern.

Die Nachhaltigkeit des Kulturtourismus spiele dabei eine zentrale Rolle. „Unser Kulturerbe ist zu großen Teilen ein Reiseziel“, sagt Thill. Er nennt das Schloss in Vianden, das „Musée de l’ardoise“ oder den Minettpark. Es gelte, diese Orte zu schützen, ohne den Zugang einzuschränken. Thill spricht sich für den „Slow Tourism“, also nachhaltiges Reisen, aus. Jenes basiere auf drei Säulen: der ökonomischen, ökologischen und der sozialen Nachhaltigkeit. „Geld darf nicht über den Besuch eines Kulturevents entscheiden“, äußert Thill sich zum letzten Punkt.

Erst das Publikum, dann die Kunstschaffenden?

Er verweist in dem Zusammenhang auf den Ausbau von Culture’All. Die ASBL stellt den Kulturpass aus: Ein Dokument, das Menschen mit geringem Einkommen die Teilnahme am Kulturleben ermöglicht. 2023 wurden 643 Kulturpässe ausgestellt; insgesamt nutzen über 5.500 Menschen das Angebot. „Solche Angebote wollen und müssen wir fördern“, so Thill. Des Weiteren strebt er eine Dezentralisierung der Kulturlandschaft sowie die Kulturbildung im Vorschulalter an. „Mir liegt es am Herzen, dass Kinder in der formellen und informellen Bildung so früh wie möglich mit Kultur in Berührung kommen“, erklärt er. „Nur so können wir ihr Interesse für Kultur wecken.“

Eine konkrete Strategie für die genannten Ziele legt Thill nicht vor. Das Kultur- und das Bildungsministerium würden derzeit Ideen ausarbeiten, man orientiere sich im In- und Ausland. Immerhin sind es Vorhaben, die im aktuellen Regierungsprogramm verankert sind. Die Förderung der Kunstschaffenden nimmt dort hingegen wenig Platz ein. Es ist vor allem von der Evaluierung von Gesetzen und Leitlinien die Rede, die von der vorherigen Regierung eingeführt wurden. Ein Umstand, der beispielsweise die „Union luxembourgeoise des associations du secteur culturel“ (Ulasc) beschäftigt.

In einer öffentlichen Stellungnahme zum Koalitionsvertrag stieß sich die Ulasc letztes Jahr an der geplanten Bestandsaufnahme des Künstler*innenstatus: 2022 hatte die damalige Abgeordnetenkammer ein Gesetz zur Anpassung der Sozialhilfen für freiberufliche Kulturschaffende verabschiedet. Dies brachte die Umbenennung der Sozialhilfen in Unterstützungsmaßnahmen, vereinfachte Zugangsprozeduren zu finanziellen Beihilfen, die Erhöhung monatlicher Zusatzgelder sowie einen verlängerten Zeitraum für den Zugriff auf die bewilligten Mittel mit sich. Die Beihilfeberechtigung wurde zudem auf weitere kulturelle Berufsfelder ausgeweitet; weitere Prozeduren wurden zugunsten freischaffender Künstler*innen verändert.

Droht durch die Bestandsaufnahme der neuen Regierung jetzt ein Backlash? Thill gibt Entwarnung: „Wir gehen keinen Schritt zurück, sondern wagen einen Schritt nach vorne: Wir wollen erörtern, an welchen Stellen wir nachbessern können.“ Ähnlich verhalte es sich mit der vorgesehen Evaluierung des Kulturentwicklungsplans (KEP), der noch bis 2028 gilt. „Wir wollen die Forderungen aus dem KEP 1.0 weiter umsetzen, gleichzeitig müssen wir die Ausarbeitung des KEP 2.0 schnellstmöglich angehen“, sagt Thill. Beide Angelegenheiten würden den Austausch mit dem Kultursektor voraussetzen. Erste interne Gespräch zum KEP seien für den Herbst geplant.

Zum Zeitpunkt des Gesprächs mit dem Tageblatt liefen zudem die Arbeiten an einem Gesetzentwurf zum „Observatoire la culture“, einer Forderung aus dem KEP 1.0; sie befanden sich damals auf der Zielgeraden. Gestern wurde der Entwurf vom Regierungsrat angenommen. Das Ziel des „Observatoire“: Informationen, Analysen und relevante Daten zum Kulturbetrieb vermitteln, um die Szene zu fördern und sie dem Publikum näherzubringen. Warum es eine solche Stelle braucht? „Weil wir eine zukunftsorientierte Kulturpolitik benötigen“, antwortet Thill. „Und das ist nur möglich, wenn uns Daten vorliegen und wir die dringlichsten Probleme der Kulturbranche benennen und angehen können.“

Um jene zu lösen, brauche es das nötige Budget – und um dieses zu rechtfertigen, bedürfe es wiederum faktenbasierter Argumente. Das Kulturministerium erhält 2024 weniger als ein Prozent des staatlichen Gesamtbudgets. Das entspricht rund 255 Millionen Euro. Thill gibt sich damit zufrieden, vor allem im Vergleich zum Vorjahr (Anm. d. Red.: 104 Millionen). Trotzdem setze er sich dafür ein, das Budget 2025 zu erhöhen – das mittelfristige Ziel: ein Prozent des Gesamtbudgets. „Ich bin optimistisch, dass uns das gelingt“, hofft Thill.

Geldfragen

Im Regierungsprogramm wird die Kultur als „vecteur économnique“ bezeichnet; eine Studie über den Einfluss des Sektors auf die luxemburgische Wirtschaft ist ebenfalls geplant. Stellt der Minister den Kulturbetrieb ein, wenn er sich als defizitär erweist? Auf die Provokation geht Thill nicht ein. „In Europa machen Kulturinstitutionen 6,2 Prozent (Anm. d. Red.: Eurostat „Culture statistics – cultural enterprises“, 2021; in Luxemburg lag der Wert bei knapp fünf Prozent) der Wirtschaft aus – das ist ein enormer Betrag“, erwähnt er stattdessen. „Solche Zahlen sind ein wichtiger Anhaltspunkt für kulturpolitische Debatten.“ Die Regierung müsse mehr Geld in die Kulturbranche investieren. „Meiner Meinung nach wurde das in der vergangenen Legislaturperiode vernachlässigt.“ Kritik an seiner Vorgängerin Sam Tanson („déi gréng“), die als engagierte Kulturpolitikerin gilt, ist das nicht: Tanson habe eine gute Ausgangsbasis geschaffen, unterstreicht Thill. Nun gelte es, weitere Hebel in Bewegung zu setzen: „Jetzt sind mein Team und ich an der Reihe, Akzente zu setzen.“

Mir ist es wichtig, nach vorne zu schauen

Eric Thill, Kulturminister

Dies könnte den „Neuen“ vor allem im audiovisuellen Bereich gelingen: Seit dieser Legislaturperiode sind das Kulturministerium und die betreffende Zweigstelle des Staatsministeriums für den Film Fund zuständig. „Wir müssen festlegen, wo wir hinwollen und den Angestellten sowie Nachwuchstalenten eine Zukunft garantieren“, sagt Thill über die laufenden Gespräche mit dem Sektor. „Momentan führen wir eine Bestandsaufnahme durch, auch im Hinblick auf die ,Assises sectorielles‘ im Filmbereich, die Ende September geplant sind. Als Kulturminister will ich wissen, wo der Schuh drückt.“

Die finanzielle Lage sei wegen allgemeiner Preiserhöhungen angespannt, da diese auch den Filmbereich beeinflussen würden. „Dies wirkt sich auf die Hilfsgelder aus, denn ich will, dass der Filmsektor zukunftsfähig ist“, meint Thill. Das, obwohl der Film Fund dieses Jahr mit 42 Millionen Euro zu den am stärksten vom Kulturministerium bezuschussten Kulturinstitutionen Luxemburgs gehört. Im Vergleich zu 2023 erhält der Film Fund sogar zwei Millionen Euro mehr. „Der Filmsektor braucht ein hohes Budget, um konkurrenzfähig zu bleiben“, kommentiert Thill diese Zahlen.

Zu den Kontroversen rund um den Film Fund, in denen es in den vergangenen Jahren um Interessenkonflikte und den problematischen Umgang mit öffentlichen Geldern ging, will er sich nicht äußern. Er habe die Debatten zur Kenntnis genommen, heißt es knapp. „Mir ist es wichtig, nach vorne zu schauen“, betont Thill. „Alles, was davor passiert ist, gehört der Vergangenheit an.“

Zwei Reformen geplant

Erblasten hat Thill ohnehin zur Genüge. Dazu zählt unter anderem das umstrittene Archivgesetz von 2018: Forschende kritisieren die restriktive Zugangspraxis zu Archivmaterial und die langen Bearbeitungszeiten bei Anträgen. In Luxemburg gilt etwa eine Sperrfrist von 75 Jahren für Akten mit persönlichen Daten. „In der Praxis wird beispielsweise der Zugang zu Dokumenten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs regelmäßig erschwert; an eine zeitgeschichtliche Forschung zum Zeitraum ab den 1960er Jahren auf der Grundlage der im Nationalarchiv aufbewahrten Quellen ist kaum zu denken“, schreiben die Wissenschaftler*innen Nina Janz und Christoph Brüll vom Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History außerdem in einem Essay zum Thema. „Das Nationalarchiv nimmt eine restriktive Haltung gegenüber seinen Nutzer*innen ein: Inventare, wie z.B. vorläufige Abgabelisten, werden nicht vorgelegt, ganze Bestände werden wegen mangelnder Bearbeitung oder Unkenntnis der Zuständigkeiten gesperrt.“

In der vergangenen Legislaturperiode wurde die Reform des Gesetzes angedacht – im aktuellen Regierungsprogramm ist davon keine Rede mehr. Thill versichert jedoch, das Dossier befinde sich in Bearbeitung. Im April habe eine öffentliche Befragung dazu stattgefunden; im Zuge der „Journée des archives“ am 7. Juni hat er sich mit den Vertreter*innen des Sektors über die Herausforderungen und Trends im Bereich der Archive ausgetauscht. Im Herbst will Thill erste Ideen und eine Grundlage für ein Gesetzesprojekt ausarbeiten.

Ein ähnliches Versprechen legte Thill im Zuge der „Assises sectorielles des bibliothèques“ im Mai ab: Ende des Jahres will er der Abgeordnetenkammer einen Entwurf für ein neues Bibliotheksgesetz vorstellen. Das aktuelle Gesetz trat 2010 in Kraft, eine Reform steht seit 2018 auf der politischen Agenda – unter anderem, weil spezialisierte Bibliotheken kein Anrecht auf finanzielle Beihilfen durch das Kulturministerium haben und das Gesetz die Autonomie der bezuschussten Bibliotheken einschränkt. Das Tageblatt berichtet in der Ausgabe vom 31. Mai ausführlich darüber. Thill will den Forderungen des Sektors nachkommen.

Vorrang haben jedoch weder das Archiv- noch das Bibliotheksgesetz, zumindest zeugt davon seine Prioritätenliste für die kommenden vier Jahre: „Ich will die Kultur zu den Menschen und die Menschen zur Kultur bringen; den Stellenwert der Kultur in der Gesellschaft und im Kinder- sowie Jugendbereich stärken; die kulturelle Diversität fördern und unser Kulturangebot dezentralisieren.“


Drei Themen, drei Statements