„Free Flow River“Freie Bahn für Fische: Deshalb sollen Hindernisse in Luxemburgs Flüssen verschwinden

„Free Flow River“ / Freie Bahn für Fische: Deshalb sollen Hindernisse in Luxemburgs Flüssen verschwinden
Wie hier im Müllerthal sollen in Zukunft mehr Bäche in Luxemburg fließen: frei und ohne Hindernisse Foto: Editpress/Didier Sylvestre

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In Luxemburg entstehen 385 Kilometer frei fließende Gewässer – ohne Wehre und sonstige Hindernisse für Flora und Fauna. Die „Free Flow River“-Strategie des Umweltministeriums soll Biodiversität erhalten – und vor den künftigen Folgen des Klimawandels schützen.

25.000 Kilometer freie Flussläufe. Ohne Staudämme, ohne Schleusen, ohne Sperren, ohne Wehre. Das ist das ehrgeizige Ziel, dem sich die EU vor vier Jahren in der Biodiversitätsstrategie 2030 verpflichtet hat. Freie Flüsse für freie Fische. Denn Gewässer ohne Barrieren sind für den Arterhalt von immenser Bedeutung. „In den vergangenen 50 Jahren ist die Artenvielfalt wandernder Süßwasserfische weltweit um 81 Prozent zurückgegangen“, sagt Adela Baratech Sánchez von der World Fish Migration Foundation. In Europa, so die aktuellen Daten des Living Planet Index, sind drei von vier Arten verschwunden. Dem pflichtet Tom Kiernan bei, Präsident der Organisation American Rivers: „Wir verlieren im Wasser lebende Spezies mit der doppelten Geschwindigkeit im Vergleich zu Landtieren.“

Aus diesem dringlichen Grund hat die luxemburgische Wasserwirtschaftsverwaltung zusammen mit der World Fish Migration Foundation und der Organisation Dam Removal Europe die Konferenz „Free Flow Luxembourg“ ins Leben gerufen, die am Dienstagnachmittag in einem Saal des Ciné Utopia stattfand. Eine Konferenz, die sich mit dem Einfluss von Wehren auf die Biodiversität der luxemburgischen Gewässer beschäftigt. Die vielen kleinen Gewässer Luxemburgs seien besonders sensibel, sagt Jean-Paul Lickes, Direktor der luxemburgischen Wasserverwaltung. „Staustufen in kleinen Gewässern haben einen immensen Einfluss auf die Biodiversität.“ Zum einen versperren sie wandernden Fischen den Weg, sie erschweren die Nahrungssuche und auch das Laichen.

Schutz gegen Hochwasser und Starkregen

Aber es geht bei den freien Flüssen nicht nur um Fische. Staustufen verhindern auch den Transport von Sediment. In Portugal tragen die Flüsse mittlerweile so wenig Sand an die Strände und Dünen, dass diese künstlich mit Sand vom Meeresboden aufgeschüttet werden müssen. Organisches Material und Nährstoffe bleiben genauso an den Staustufen hängen, den Böden im weiteren Fluss- oder Bachverlauf fehlen also wichtige Rohstoffe. Nicht zuletzt verändern Barrieren und Hindernisse sowohl die Fließgeschwindigkeit als auch die Temperatur des Gewässers. Die Wasserqualität sinkt, grüne Algen breiten sich aus. Neben diesen Auswirkungen auf die Ökosysteme von Flora und Fauna im und am Bach gibt es noch einen weiteren wichtigen Punkt, den an diesem Tag sowohl Umweltminister Serge Wilmes (CSV) als auch Wasserverwalter Lickes betonen: „Naturnahe Gewässer sind der beste Schutz gegen Hochwasser und Starkregen. Mit renaturierten Flussläufen schützen wir nicht nur das Wasser und die Natur, sondern auch uns selbst.“ Das Thema habe die hundertprozentige Unterstützung der Regierung, sagt Wilmes.

Folgen der Konferenz: Jean-Paul Lickes, Direktor der „Administration de la gestion de l’eau“ (AGE), und Umweltminister Serge Wilmes (r.)
Folgen der Konferenz: Jean-Paul Lickes, Direktor der „Administration de la gestion de l’eau“ (AGE), und Umweltminister Serge Wilmes (r.) Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

Die Dämme müssen weg. So weit ist man sich also einig. Wie genau das vonstatten gehen soll, skizziert Lisa van der Weken im Namen des Umweltministeriums in der ersten nationalen „Free Flow River“-Strategie Luxemburgs. Auf den Bächen und Flüssen des Großherzogtums gebe es insgesamt 1.016 Hindernisse, so Van der Weken, 797 davon habe das Ministerium als signifikant hemmend eingestuft. Auf allen Wasserwegen des Landes finden sich mehr als 700 „freie“ Strecken mit einer Kürze von weniger als einem Kilometer. Unterbrechungsfreie Flussabschnitte, wo das Wasser länger als zehn Kilometer fließen kann, gebe es hingegen nur 13. Die meisten davon im Norden Luxemburgs und um die Sauer. „Deshalb haben wir den Fokus der ersten Strategie auf den Norden gelegt“, sagt Van der Weken. Hier sollen in den kommenden Jahren 385 Kilometer freie Wasserwege entstehen – von der Mosel bis zu den Fischlaichplätzen an den Quellen kleiner Bäche, Luxemburgs Beitrag zum europäischen Ziel von 25.000 Kilometern. Noch hindern mehr als 200 Barrieren den freien Fluss an Sauer, Clerve, Wiltz und ihren Zuläufen. Diese sollen nun Stück für Stück verschwinden. Auch und vor allem, weil man sie heute nicht mehr braucht.

In ganz Europa gibt es mehr als eine Millionen Barrieren in Flüssen, erklärt Ruben Rocha von Dam Removal Europe. Mehr als 150.000 davon seien obsolet. Sie werden nicht mehr gebraucht, zerfallen bereits – oder stellen gar ein Sicherheitsrisiko dar. Österreich und Spanien haben die Entfernung überflüssiger Dämme bereits in ihre nationale Gesetzgebung übernommen. Letzteres zählt zusammen mit Frankreich zu den „Champions der Dammentfernung“, so Rocha. In 2023 wurden europaweit knapp 500 bauliche Flusshindernisse aus dem Weg geschafft.

In Luxemburg hat man sich bereits auf den Weg gemacht, die Wasserwege freizuräumen. „Das Tempo könnte besser sein“, sagt Claude Prim von der Wasserwirtschaftsverwaltung. Besitzverhältnisse an den Ufern der Bäche und emotionale Aspekte erschweren die Renaturierungen (siehe Interview). „Und manchmal kommt dann auch noch der Denkmalschutz ins Spiel“, so Prim. Zumindest in dieser Hinsicht gab es in Estland kürzlich eine Grundlagenentscheidung. Der Oberste Gerichtshof des Landes urteilte, dass Umwelt- und Naturschutz-Aspekte stärker wögen als der Denkmalschutz von alten Flussanlagen.


Direktor der Wasserverwaltung, Jean-Paul Lickes
Direktor der Wasserverwaltung, Jean-Paul Lickes Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

Drei Fragen an Jean-Paul Lickes, Direktor der Wasserwirtschaftsverwaltung

Tageblatt: Warum ist ein freier Flusslauf ohne Hindernisse so wichtig?

Jean-Paul Lickes: Wir wollen die Biodiversität stärken, indem wir die Ökosysteme flussab- und -aufwärts wieder miteinander verbinden. Das betrifft nicht nur die Fische, sondern das gesamte Leben innerhalb des Flusses. Das ist der eine wichtige Punkt. Zusammen mit Renaturierungsmaßnahmen sorgen wir dadurch aber auch für Hochwasserschutz und eine bessere Resilienz gegenüber Starkregenereignissen.

Wo gibt es in Luxemburg den größten Handlungsbedarf?

Es gibt kein Gebiet im Land, wo wir sagen können, da ist schon alles in Ordnung oder da ist die Situation sehr schlecht. Das Problem ist, dass wir sowohl im ländlichen als auch im städtischen Bereich überall Querbauwerke haben, die den freien Lauf von Flüssen behindern. Im ländlichen Bereich waren es oft Mühlen, die gebaut wurden. Im städtischen Bereich wurden Bachläufe in Kanalisationen und Betonbetten gezwungen. Früher herrschte die Idee vor: Je schneller das Abwasser beim Nachbarn ist, desto besser. Das hatte sanitäre Hintergründe. Wir haben dem Bachlauf unsere Struktur aufgezwängt. Mit Klimawandel und Starkregen bekommen wir deshalb aber jetzt Probleme.

Vor welchen Herausforderungen steht man bei der Renaturierung der Bachläufe?

Die größte Herausforderung ist das Verständnis. Menschen, die seit Jahrzehnten an Bachläufen leben, verstehen nicht, was das Problem ist. Bei Renaturierungen haben wir oft ein Problem, Zugang zu den einzelnen Parzellen am Bach zu bekommen. In Luxemburg gibt es viele Landeigentümer, die Parzellen sind teilweise sehr klein. Manchmal ist es dann so, dass wir eine Verständigung mit 95 oder 98 Prozent der Besitzer haben, aber zwei oder drei stellen sich quer. Das kann das Projekt verzögern oder sogar zum Scheitern bringen. Nicht zu unterschätzen sind auch sentimentale Aspekte. Ich bin selbst in der Stadt Luxemburg groß geworden. Ich kenne die Petruss, so wie sie früher war. Meine Eltern sind mit mir am Petrusshang Schlitten gefahren, da ist bei vielen Leuten Nostalgie dabei. Es hat uns zusammen mit der Stadt Luxemburg sehr viel Mühe gekostet, sehr viele öffentliche Versammlungen, um das Projekt pädagogisch so aufzuarbeiten, dass es akzeptiert wurde. Dafür haben wir nicht immer Zeit. Wenn es ein Starkregenereignis gibt, dann klingeln die Telefone bei uns und alles soll ganz schnell gehen.


Schoellen André
24. Mai 2024 - 22.02

Zu der Ausso: „In den vergangenen 50 Jahren ist die Artenvielfalt wandernder Süßwasserfische weltweit um 81 Prozent zurückgegangen“.
Dovun ass Lëtzebuerg wuel kaum betraff: An de leschte 50 Joer ass menges Wëssens no zu Lëtzebuerg keen eenzegen neie Barrage, keen neit Wier gebaut ginn, déi d'Fëschmigratioun kéinte behënneren. Vill kleng Wierer, si gehéieren normalerweis zu Joerhonnerten aale Millen, sinn historesch Bauwierker a gehéieren geschützt. Konflikt mam Denkmalschutz, well e Wier heefeg e Bestanddeel vun enger Millen ass (patrimoine industriel) oder vun aalen Wisebewässerungsanlagen (Fléizen, patrimoine immatériel)!
Ët géif nach feelen, dass d'AGE de Schéissendëmpel wegbaggere géif, fir dass d'Fësch sech "barrierefräi" bis op Jonglënster oder an de Gréngewald bewege kënnen...

Nach eng Bemierkung: Kee Wonner, wann ëmmer méi Leit Waasser an de Keller oder an d'Haus kréien. Si bauen hir Haiser an Iwwerschwemmungs- oder Risikogebidder (cf. Geoportal). Do läit de Feeler wuel éischter bei eiser Landesplanung.

An zulescht: Waasserkraftwierker produzéiere dee beschte Stroum, deen een sech virstelle kann, kontinuierlech a propper! Ech gesinn z.B. net, dass zu Esch-Sauer oder zu Veianen d'Staumaueren weggerappt ginn.

JJ
24. Mai 2024 - 9.42

...und dann ist da noch die Sache mit Gülleaustragungen an Bachufern. So fand ich einst das "Nationaldenkmal" Schiessentümpel mit brauner Schaumkrone vor.Zum Entsetzen vieler belgischer und niederländischer Touristen. Geht aber auch an anderen Bachläufen wie Attert in Ell wo mich ein erzürnter Bauer anschnautzte als ich ihn beim "Güllen" filmte.Zwei Meter vom Ufer entfernt. "Free flow River" eben.