EditorialGelingt Kiew ein Wandel im Kriegsverlauf?

Editorial / Gelingt Kiew ein Wandel im Kriegsverlauf?
Wegen Putins Krieg in der Ukraine müssen nun auch Tausende Menschen in Russland flüchten Foto: Uncredited/AP/dpa

Die Ukrainer haben Putins Krieg gegen ihr Land nach Russland getragen. Seitdem wird darüber spekuliert, welche Ziele die Führung in Kiew mit diesem ebenso gewagten wie überraschenden Zug verfolgt. Einiges wurde schon erreicht: Während die Ukraine im Osten nach wie vor in der Defensive ist, hat sie mit dem Vorstoß auf russisches Gebiet ein offensives Moment geschaffen, das sich vorteilhaft auf die Moral nicht nur der ukrainischen Soldaten auswirken dürfte. Düpiert wurden auch der Machthaber im Kreml und seine Riege, die versuchen, die sich ausweitende Schmach kleinzureden und sie vor der eigenen Bevölkerung zu vertuschen. Deshalb sollen unter anderem die aus der Region Kursk evakuierten Menschen in besetzte ukrainische Gebiete gebracht werden, damit ihr Schicksal möglichst wenigen Landsleuten bekannt wird.

Ob das Ablenkungsmanöver gelingen wird und Moskau Truppen von der Ostfront abzieht, um sie im eigenen Land einzusetzen; ob noch weitere russische Gebiete besetzt und über einen längeren Zeitraum gehalten werden können, um sie als eventuelle Verhandlungsmasse zu verwenden – das ist alles derzeit noch nicht abzusehen. Immerhin aber haben die Ukrainer gezeigt, dass sie trotz ihrer schwierigen Situation im Osten des Landes nach Wegen suchen, um sich gegen die übermächtigen Invasionstruppen zu behaupten. Die militärische Unterstützung, das soll die Offensive wohl vor allem den westlichen Verbündeten zeigen, kann sehr wohl etwas bewirken. Solange sie in ausreichendem Maße und beizeiten bereitgestellt wird. Was offensichtlich noch immer nicht der Fall ist.

Eine Eskalation ist die ukrainische Offensive keineswegs. Es ist lediglich die territoriale Verlagerung eines Krieges, den die Ukraine – wie das restliche Europa – nie gewollt hat und so schnell wie möglich zu fairen Bedingungen beendet wissen will. Dass bei dem Vormarsch auf russisches Gebiet auch westliche Waffen verwendet werden, wird selbst in Deutschland nur noch von Teilen der politischen Klasse kritisiert. Doch bei allem Respekt vor dem hohen Verantwortungsbewusstsein, das die Deutschen angesichts ihrer Geschichte leitet: Es sind nicht die Panzer von Nazi-Deutschland, die da auf Kursk vorrücken. Es ist die Bundesrepublik Deutschland, die der Ukraine unabdingbares militärisches Material für ihren Abwehrkampf gegen einen brutalen Aggressor bereitstellt. Das ist ein fundamentaler Unterschied, den eigentlich auch Leute wie Sahra Wagenknecht erkennen müssten. Wenn sie es nicht vorziehen würden, der Kreml-Propaganda zu folgen.

Und noch etwas wird im Zuge dieses neuen Momentums in diesem sinnlosen Krieg abermals deutlich: Der russische Machthaber ist nicht an Verhandlungen mit Kiew interessiert. Er begründet dies mit der zynischen Bemerkung, die Ukraine würde „wahllos Zivilisten und zivile Infrastruktur angreifen“ – nachdem die russischen Truppen in den vergangenen zweieinhalb Jahren in der Ukraine vor allem auch unzählige zivile Einrichtungen zerstört und Tausende Zivilisten umgebracht haben.

Ob es der Führung in Kiew dennoch gelingen wird, mit ihrer Offensive einen Wandel zu ihren Gunsten – nicht nur im Kriegsverlauf, sondern auch im Hinblick auf Verhandlungen – zu erreichen, ist zu hoffen, dürfte aber eher unrealistisch sein. Zumindest jedoch versuchen die Ukrainer, die Bedingungen dafür zu schaffen.

porcedda daniel m
16. August 2024 - 11.12

@ fraulein smilla
Ihren Einwand, Putin „hat bestimmt keine Angst vor dem russischen Volk“ will ich hier gesondert „bearbeiten“:

Dass Putin offensichtlich panische Angst vor seinem eigenen Volk hat, hatte Boris Nemzow bereits 2012 gesagt. Das ist der Mann, er vehement und öffentlich Putin kritisierte und der in Moskau auf offener Straße auf der Brücke direkt neben dem Kreml erschossen wurde.

Die Angst Putins vor seinem Volk spiegelt sich in der Hexenjagd auf Oppositionelle. Der Prozess gegen die Frauen von Pussy Riot wurde auch in unseren Medien thematisiert. Die vielen andere brutale Vorgehen gegen Oppositionelle - darunter nicht bloß Politiker, sondern ebenfalls Künstler, Geschäftsleute, Demonstranten – bleiben bei „uns“ oft ohne Beachtung. Viele unerklärliche Fensterstürze und Herzinfarkte von Gegnern Putins, Kreml-Kritiker, sind und bleiben unaufgeklärt. Russlands Präsident Putin setzt auf einen Unterdrückungsstaat nach altem Muster … weil er Angst vor seinem eigenen Volk hat. Großdemonstrationen in Russland will er unter allen Umständen verhindern.

Weiteres Beispiel seiner Angst: Gut zwei Wochen vor der letzten Präsidentenwahl hat er so etwas wie eine Agenda 2030 vorgestellt, die vor sozialen und wirtschaftlichen Versprechungen ohne Gegenfinanzierung nur so überquoll. Nur gibt es in Russland keinen Wahlkampf, denn es gibt niemanden, der gegen Putin antreten könnte. Warum das also?

„Putin hat offensichtlich panische Angst vor Unruhe in seinem Land und einem Machtverlust. Nachdem er in seiner Rede Einschüchterungsversuche und Ankündigungen zu neuen, tollen, tödlichen Waffensystemen abgespult und die Unterstützung seiner Bevölkerung für den Angriffskrieg gegen die Ukraine proklamiert hat, ging er zu Verheißungen für Russinnen und Russen über. Die Löhne werden steigen, arme Familien mehr Geld bekommen, die Gesundheitsversorgung verbessert, Sportanlagen gebaut, die Industrie modernisiert. Botschaft: Alles wird besser. Die Frauen mögen ihm nur bitte mehr Kinder gebären. Davon habe Russland zu wenig. Ohne Söhne und Töchter lassen sich Kriege wohl schwer führen.“ (Quelle: Kristina Dunz, Stellvertretende Leiterin Hauptstadtbüro des RND, RedaktionsNetzwerk Deutschland, März 2024)

Zu den Bolschewiken:
Sie machen gerade eine Zeitreise. In Ihrem vorhergehenden Kommentar ging es um die 90er Jahre, worauf ich Bezug nahm. Jetzt bewegen Sie sich in einem Zeitraum von 1917 (Oktoberrevolution) bis 1952, wo die Partei in Kommunistische Partei der Sowjetunion umbenannt wurde. Der Begriff Bolschewiki war damit im offiziellen Sprachgebrauch der Sowjetunion abgeschafft.

fraulein smilla
16. August 2024 - 8.12

@ porcedda Nobelpreistraeger Jo Stiglitz schreibt von marktwirtschaflichen Bolschewiken die Russland zu Grunde gerichtet haben .( Joseph Stiglitz -Die Schatten der Globalisierung )

porcedda daniel m
15. August 2024 - 20.53

@fräulein smilla
„westlischen marktwirtschaftlischen Taliban“? Ach du meine Güte. Aus welcher russophilen Quelle haben Sie denn diesen unsäglichen Begriff entnommen?

Zur russischen Wirtschaft der 90er Jahre: „Nach der Auflösung der Sowjetunion und dem Zusammenbruch der Planwirtschaft Ende der 1980er Jahre ging die gesamtwirtschaftliche Produktion in Russland von 1990 bis 1996 Jahr für Jahr zurück. Insgesamt verringerte sich das Bruttoinlandsprodukt um etwa 40 Prozent. Als sich 1997/1998 eine Erholung andeutete, brachen die Erdölpreise ein. Russland musste die Bedienung seiner Staatsschulden einstellen und die Dollarbindung des Rubel aufgeben.“

Es war das Jahrzehnt der Wirtschaftstransformation Russlands. In diese Zeit fielen auch die Privatisierungen, die einige seltene Blüten, wie zum Beispiel Oligarchen, hervorbrachten. Korruption war die Regel, nicht die Ausnahme.

Westliche Berater hatten Russland übrigens problemlösende Vorgehen empfohlen, die allerdings die russischen Instanzen überforderte, da sie unter anderem die Korruption nicht in den Griff bekommen konnten. Dies mündete schließlich in der Währungskrise von 1998.

Als Quelle zu solchen Aspekten kann ich Ihnen zum Beispiel Dr. Roland Götz empfehlen, Politikwissenschaftler und anerkannter Osteuropaexperte.

Sprechen Sie mal mit Menschen aus Russland und ehemaligen Sowjetstaaten, die diese Zeiten miterlebt haben. Ich habe mit vielen Menschen gesprochen, die sich an diese Zeiten gut erinnern können, als diese Region von ihnen der „wilde Osten“ genannt wurde.

Das gesellschaftliche und politische „Klima“ während dieses Jahrzehnts kann ein Westeuropäer nur einigermaßen erahnen, wenn er selber eine Zeit lang vor Ort war. Diesem muten Ihre Einlassungen zu Russland denn auch ziemlich abwegig an.

fraulein smilla
15. August 2024 - 10.05

@ porcedda drei viertel aller Russen sind der Meinung dass die Sowjetzeit die gloreichste ihrer Geschichte war . Die Russen stellen ihre Obrigkeit nicht in Frage . Beim KGB Putsch von 1991 standen mehr Menschen in der Schlange zur Eroeffnung einer neuen McDonald Filiale als Demokratie Verteidiger vor dem Parlament . Die Russen haben auch nicht vergessen ,dass Russland waehrend der Jelzinaera von westlischen marktwirtschaftlischen Taliban zu Grunde gerichtet wurden . Putin hat Angst vor den " Prigoschins " aber er hat bestimmt keine Angst vor dem russischen Volk .

porcedda daniel m
14. August 2024 - 20.50

@Luxmann

Eine gewagte These, die USA-Jelzin-Beziehung betreffend. Im Übrigen garantierte Putin Jelzin und seiner Familie Freiheit vor Strafverfolgung, ergo Amnestie. Wäre Jelzin tatsächlich eine US-Marionette gewesen, hätte Putin gleich eine Demonstration der Stärke gezeigt, wenn er seinen Vorgänger vorgeführt hätte … und zwar nach innen wie auch nach außen. Innenpolitisch hätte er seine „Marke“ setzen können, außenpolitisch eine Warnung an die USA geschickt.

Dass Jelzin Ende 1999 nicht gar so plötzlich abgetreten ist, hatte auch mit seinem Gesundheitsstatus zu tun. In den 90ern erlitt er mehrere Herzinfarkte.

@Leila
au weia, sollte wohl ein Totschlagargument sein ... ist es aber nicht

Leila
14. August 2024 - 18.59

Die "WELT" = Axel Springer,
die "BILD" = ebenfalls Axel Springer...

Luxmann
14. August 2024 - 17.51

@ porcedda
Man braucht kein veschwoerungstheoretiker zu sein um zu wissen dass die USA Russland "helfen" wollten indem sie Jelzin unterstuetzten,dessen wahlkampagnen von US beratern mitgemanaged wurden.
Dass Jelzin dann bruesk abtritt und Putin als nachfolger designiert war sicher so nicht geplant

porcedda daniel m
14. August 2024 - 16.58

@Luxmann
Sie glauben also an die Mär, dass die „amis“ ihren kandidaten an die macht bugsieren“ würden und „die US boys ja bereits in den 90er jahren ihren freund Jelzin in den kreml gebracht“ hätten? Haben Sie sich über die letzten mindestens 20 Jahre mit der russischen Politik auseinandergesetzt? Sind Sie prinzipiell anfällig für Verschwörungstheorien? Wer übrigens bitteschön sollte dieser „US-Kandidat“ sein, den die „Amis“ in Russland an die Macht bugsieren wollen?

Anfang der 90erJahre befand sich die russische Wirtschaft in rasanter Talfahrt, es kam zu wachsenden Spannungen zwischen Präsident Boris Jelzin und dem russischen Parlament. Schon bevor Clinton das Amt des US-Präsidenten antrat, interessierte er sich für die Entwicklung Russlands. Er hatte im Wahlkampf mehr Wirtschaftshilfen für Russland gefordert. Das Argument hierfür hatte er von Nixon übernommen: „Hilfen an Russland und vormals kommunistische Staaten seien keine bloße Wohltätigkeit, denn was uns in Übersee hilft, hilft uns zu Hause.“ Dies in Hinblick auf das enorme Arsenal nuklearer Waffen in drei ehemaligen Sowjet-Republiken, die auch für die USA eine Gefahr bedeuteten.

2023 freigegebene Dokumente aus den 1990ern zeigen die US-amerikanische Russlandpolitik, die nicht auf Konfrontation aus war, sondern dass es in den frühen 1990er-Jahren in den USA den politischen Willen gab, Russland zu helfen, es einzubinden. (eine von vielen Quellen, die dieses Thema behandelten: WELT vom 13.02.2023)

Das eine Revolution in Russland möglich ist, wird von etlichen Politologen und Wissenschaftlern erwähnt. Unter anderem von Michail Lobanov, russischer linksdemokratischer Politiker und Gewerkschaftsaktivist. Im Übrigen finden immer wieder Proteste in Russland statt, jedoch wird darüber „bei uns“ kaum berichtet. Die Proteste 2021 allerdings sind auch in unseren Medien behandelt worden.

Wenn der Kühlschrank vieler russischen Bürger leer ist, das Überleben noch schwieriger wird, genügt ein Funken, die Menschen in Massen auf die Straßen zu bringen.

Luxmann
14. August 2024 - 15.53

@porcedda
Sie glauben also an einen maidan putsch in Moskau,wo die amis ihren kandidaten an die macht bugsieren.
Allerdings hatten die US boys ja bereits in den 90er jahren ihren freund Jelzin in den kreml gebracht...und dieser Jelzin hat Putin zum nachfolger ernannt😀
Man weiss nie was solche putsche auf lange sicht bringen...wait and see.

fraulein smilla
14. August 2024 - 14.31

Putin wird schon einen Suendenbock fuer dieses Desaster finden und fuer die Russen hat der Zar alles richtig gemacht .

max.l
14. August 2024 - 14.04

am Prinzip sën ëch ëmmer mol viirsichtëg iwwer ësou Noriichten..

porcedda daniel m
14. August 2024 - 12.57

Unrealistisch? Keineswegs.

Mit den ukrainischen Angriffen auf russischem Territorium werden unter anderem zwei wesentliche Ziele erreicht.

Das erste Ziel ist, die russische Bevölkerung, die immer noch überwiegend hinter Putins Angriffskrieg steht da von kremlscher Propaganda seit vielen Jahren manipuliert, deutlich zu zeigen, ein Bumerang-Effekt ist möglich und Kriegshandlungen sind somit auch in Russland.

Das zweite Ziel, das weitaus relevantere, ist: Putin verliert seine Aura als starker politischer Herrscher, der sein Volk beschützen kann. Der sinkende Zuspruch wird ihn zu (eventuell übereiligen und unüberlegten) Handlungen zwingen, womit er den Zorn nicht bloß seiner eigenen Bevölkerung, aber vor allem seiner direkten Entourage auf sich ziehen wird. Geht Putin nach deren Einschätzung „zu weit“, wird sich jeder selber der Nächste sein. Das Risiko des Verlustes politischer und ganz besonders ökonomischer Macht vieler Putin-Getreuen könnte eine Palastrevolution nach sich ziehen. Diese könnte Aufstände in der Bevölkerung initiieren und zu dem führen, wovor Putin am meisten Angst hat: Revolutionäre Aufstände nach dem Vorbild der Maidan-Revolutionen in der Ukraine.

Die kommenden Wochen und Monate werden zeigen, inwieweit sich die ukrainischen Ziele verwirklicht haben werden, es also mehr als ein Teilerfolg sein wird, den es ja bereits ist. Es wird vor allem auf die Unterstützung anderer Länder nicht bloß aber auch von Waffenlieferungen ankommen.

Man kann es durchaus als internationales Armutszeugnis betrachten, dass der Ukraine von Anfang an nicht die benötigte Hilfe geleistet wurde, die es gebraucht hätte, die russischen Truppen aus der Ukraine zu vertreiben. Die nun erfolgten ukrainischen Aktionen auf russischem Gebiet wären damit verhindert worden.