HörbücherIm Test: „Ich, Sperling“ und „Bleib“

Hörbücher / Im Test: „Ich, Sperling“ und „Bleib“
Lesestoff für die Ohren: zwei Hörbücher im Überblick Foto: Pexels/Stas Knop

Hörbücher im Test: Wie empfehlenswert sind die Vertonungen von James Hynes’ „Ich, Sperling“ und Adeline Dieudonnés „Bleib“? Françoise Stoll hat reingehört.

„Ich, Sperling“

Langes Hörvergnügen: „Ich, Sperling“ – Bewertung 4,5/5
Langes Hörvergnügen: „Ich, Sperling“ – Bewertung 4,5/5 Copyright: DAV

Namenlos streift ein Junge durch Carthago Nova. Er weiß nicht, wo er ist, woher er kommt und wer seine Eltern sind. Als er noch ein Kleinkind ist, macht ein Innenhof mit Garten seinen ganzen Horizont aus. Dementsprechend groß ist der Schock, als er eines Tages erfährt, dass eine ganze Welt hinter diesen Pforten wartet, sie aber nicht für ihn bestimmt ist.

Im Garten verbringt der Junge die meiste Zeit mit Euterpe. Sie ist eine sogenannte „Wölfin“ (eine Prostituierte) und hat, neben der Köchin, als einzige eingewilligt, Zeit mit ihm zu verbringen. Euterpe bringt ihm bei, zu sprechen, erzählt ihm Geschichten und erklärt ihm die Welt auf ihre eigene, philosophische Art und Weise. Sie ist es, die dem Protagonisten den Spitznamen „Sperling“ verleiht.

Von Wölfinnen und einem Sexsklaven

Sperling begreift recht schnell, dass er ein Sklave ist. Menschen, die einen Namen haben, seien Menschen und Namenlose seien Gegenstände, Werkzeuge, wird ihm immer wieder eingebläut. Ab einem gewissen Alter wird er als Laufbursche eingesetzt. Zu seinen täglichen Pflichten gehört es nun, Wasser und Lebensmittel zu besorgen, zu putzen und alles zu tun, was ihm aufgetragen wird. Immer wieder fragt Sperling, woher er stamme und wer er sei. Bis er erfährt, dass der Bordellbetreiber ihn als Baby ersteigert hat, in dem Glauben, er sei ein Mädchen. Doch leider wird auch sein Geschlecht den kleinen Laufburschen nicht vor seinem Schicksal bewahren können.

Bald werden die Wölfinnen, die wie Tanten für ihn waren, zu seinen Schwestern und Leidensgenossinnen. Wie alt der Protagonist ist, als ihm seine eigene Zelle zugeteilt wird und er Freier empfangen muss, weiß niemand, nicht einmal er selbst. Als Sklavenjunge in einem Bordell des vierten Jahrhunderts nach Christus bleibt ihm nichts anderes übrig, als sein Los zu akzeptieren. Nacht für Nacht verwandelt er sich wahrlich in einen Sperling, der sich vom Geschehen abkapselt und seinen eigenen Körper verlässt. Wie bei einer außerkörperlichen Erfahrung üblich, beobachtet er das Geschehen von oben, wie ein Dritter. Als habe er nichts damit zu tun …

James Hynes gelingt es auf unbeschreibliche Art und Weise, diese brutale, schöne, schaurige und tiefgründige „Coming of age“-Story zu erzählen und glaubhaft im Setting des Römischen Reichs anzusiedeln. Zehn Jahre soll Hynes für die Recherche gebraucht haben. Ebenso meisterhaft ist die Interpretation des 82-jährigen Walter Kreye, der – wie der Protagonist selbst – auf Erlebtes zurückblickt und es gleichzeitig schafft, sich in die Rolle eines kleinen Jungen zurückzuversetzen.

„Ich, Sperling“ von James Hynes, Laufzeit: 21,30 Stunden, Audio Verlag, September 2023

James Hynes (Autor)

James Hynes, geboren 1955, ist Absolvent des angesehenen Iowa Writers’ Workshop. Hynes hat bisher drei Romane und eine Kurzgeschichtensammlung veröffentlicht. Seine Werke wurden unter anderem in The New York Times und The Washington Post publiziert. Er unterrichtete kreatives Schreiben an verschiedenen Universitäten und lebt derzeit in Austin, Texas.

Walter Kreye (Sprecher)

Walter Kreye, geboren 1942, spielte an Bühnen wie dem Hamburger Schauspielhaus, dem Thalia Theater, dem Staatstheater Stuttgart sowie der Schaubühne Berlin. Der Grimme-Preisträger erlangte Bekanntheit durch zahlreiche Film- und Fernsehrollen, darunter als Hauptkommissar Kress in „Der Alte“ und durch die Netflix-Serie „Dark“.

„Bleib“

Das Cover zu „Bleib“ – Bewertung 3,5/5
Das Cover zu „Bleib“ – Bewertung 3,5/5 Coypright: DAV

Ein wesentlich kürzeres Hörvergnügen bietet „Bleib“. Nichtsdestotrotz ist Adeline Dieudonnés neuester Roman nichts für schwache Nerven. In knapp fünf Stunden erzählt Interpretin Jördis Triebel von einem ungewöhnlichen Beziehungsende. Eigentlich verbrachte die Protagonistin wie so oft ein Wochenende mit M., ihrem Geliebten, im Chalet eines Freundes. Was als heimliche Liebe zwischen den beiden begann, endet auch so. Denn plötzlich treibt M.s Körper leblos im See. Eine Fremdeinwirkung gab es nicht. M. hatte einen Herzinfarkt. Doch seine Geliebte ist noch nicht bereit, Abschied zu nehmen.

Abschied nehmen

Was folgt, gleicht einem sich steigernden Fiebertraum. Die Protagonistin weigert sich, einen Krankenwagen zu rufen, M.s Familie oder irgendeiner Menschenseele von seinem Ableben zu berichten. Stattdessen möchte sie noch Zeit mit ihm verbringen, jetzt, wo er zerbrechlicher und vulnerabler ist als je zuvor. In den folgenden Tagen weicht sie ihm also nicht von der Seite. Sie schläft neben ihm, redet mit ihm. Irgendwann verfrachtet sie ihn in ihr Auto und streift mehr oder weniger ziellos durch die Gegend. Sie weiß, dass sie dem Augenblick, in dem sie ihn freigeben muss, nicht entrinnen kann. Selbst den Konsequenzen ihres Handelns ist sich die Protagonistin bewusst. Allerdings schafft sie es nicht, einen Schlussstrich zu ziehen und schreibt M.s Ehefrau einen langen, sehr ehrlichen (zu ehrlichen) Brief.

Die belgische Autorin Adeline Dieudonné ist für ihren Hang zum Makabren, aber auch für ihre außergewöhnliche Perspektive bekannt. Es gelingt ihr, das dramatische Ende einer Liebesbeziehung zu erzählen, ohne es zu verurteilen, ohne auf voyeuristische oder perverse Elemente zurückgreifen zu müssen.
Trotz des ungewöhnlichen Stoffes und einer gewissen Nahbarkeit, die die Autorin zur Protagonistin schafft, stellt „Bleib“ keine Konkurrenz zu Dieudonnés Bestseller-Roman „Das wirkliche Leben“ dar. Nimmt man die Geschichte jedoch nicht für bare Münze, sondern begreift sie vielmehr als Metapher für Schmerz und (Kontroll-)Verlust, kommt man als Zuhörender bzw. Lesender dennoch auf seine Kosten.

„Bleib“ von Adeline Dieudonné, Laufzeit 4, 45 Stunden, Audio Verlag, Juni 2024

Adeline Dieudonné (Autorin)

Adeline Dieudonné, 1982 geboren, arbeitet als Dramaturgin und Theaterschauspielerin. Ihr Romandebüt „Das wirkliche Leben“ wurde mit 14 Literaturpreisen ausgezeichnet und war Favorit des Buchhandels. Mit ihren beiden Töchtern lebt sie in Brüssel.

Jördis Triebel (Sprecherin)

Jördis Triebel, geboren 1977, absolvierte ihr Studium an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Nach Engagements am Bremer Theater und am Schauspielhaus Zürich war sie in mehrfach ausgezeichneten Filmen wie „Die Päpstin“ von Sönke Wortmann zu sehen. Auch durch ihre Rollen in Serien wie „Weißensee“ und der Netflix-Serie „Dark“ wurde sie bekannt.