Die Politik der offenen TürAußenminister Xavier Bettel zu Besuch in einem Flüchtlingslager in Jordanien

Die Politik der offenen Tür / Außenminister Xavier Bettel zu Besuch in einem Flüchtlingslager in Jordanien
Xavier Bettel beim Gespräch mit Bewohnen und UNHCR-Mitarbeitern

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Schon lange ist Jordanien eines der Hauptzielländer für jene Menschen, die vor den kriegerischen Konflikten des Nahen und Mittleren Ostens geflohen sind. Am zweiten Tag seiner Jordanien-Reise hat sich Luxemburgs Vizepremier und Chefdiplomat Xavier Bettel ein Bild von der Situation der Flüchtlinge im Land gemacht.

Gut eine Stunde liegt Zaatari von der jordanischen Hauptstadt Amman entfernt. Das Flüchtlingslager im Norden des zu einem beträchtlichen Teil aus Wüste bestehenden Landes, in dem mehr als 11,5 Millionen Einwohner leben, ist eines der größten der Welt. Rund 80.000 Menschen leben in Zaatari, nur sechs Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Sie kamen ab Juli 2012 aus Syrien, nachdem dort im Jahr zuvor der Bürgerkrieg ausgebrochen war. Insgesamt befinden sich nach inoffiziellen Angaben 130.000 syrische Flüchtlinge in jordanischen Lagern, 560.000 leben unterdessen verteilt in Städten und Gemeinden. Nach Schätzungen gibt es zurzeit etwa 2,5 Millionen Flüchtlinge und Nachkommen von Flüchtlingen in dem Königreich, die größte Gruppe bilden dabei die Palästinenser, gefolgt von den Syrern und Irakern sowie kleineren Gruppen wie Jemeniten, Libyern und Sudanesen.

Obwohl Jordanien die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet hat, „hat das Land im Laufe seiner Geschichte einer großen Zahl von Zwangsmigranten Zuflucht gewährt“, erklärt Abdel Baset Athamneh von der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Yarmouk-Universität in Irbid, der zweitgrößten Stadt des Landes. Jordaniens Politik der „offenen Tür“ beschränke sich nicht nur auf die Aufnahme von Flüchtlingen, sondern beinhalte auch die Erlaubnis, dass Flüchtlinge auch außerhalb der Flüchtlingscamps wohnen dürfen. 82 Prozent von ihnen, so ergaben jüngste Untersuchungen, leben in Städten. Dies erleichtere ihre Integration.

Viele der Syrer sind schon seit zehn Jahren oder von Anfang an in Zaatari, als das unter der Verantwortung des UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) stehende Camp entstand. „Damals waren es Zelte, heute sind es Container“, sagt Roland Schönbauer, der für das Flüchtlingslager zuständige UNHCR-Sprecher. Der Österreicher, ein ehemaliger Journalist, ist seit gut zwei Jahrzehnten in der Flüchtlingshilfe tätig und hat in mehreren Ländern weltweit gearbeitet.

„Aus den Augen, aus dem Sinn“

Inzwischen sind einige der Wohncontainer stark erneuerungsbedürftig und gehören ersetzt. „Viele haben ihre Haltbarkeit überschritten und verfallen allmählich“, weiß Schönbauer und erklärt: „Als in Syrien der Krieg ausbrach und Tausende von Flüchtlingen nach Zaatari kamen, interessierte sich die Weltöffentlichkeit noch weitaus mehr für das Lager.“ Das Interesse habe seither deutlich nachgelassen. Andere Brennpunkte seien in den Vordergrund gerückt. „Aus den Augen, aus dem Sinn“, sagt der Flüchtlingshelfer mit traurigem Unterton. Nicht nur die mediale Aufmerksamkeit sei zurückgegangen, sondern auch die Hilfsgelder.

„Es ist ein offenes Lager“, betont der Sprecher. „Die Menschen können kommen und gehen, zum Beispiel um hier in der Nähe zu arbeiten. Hauptsache, sie haben ein Dach über dem Kopf. Strom und Wasser sind kostenlos.“ Zudem unterstützt sie die UNHCR mit Bargeld. Die Summe hängt von der Größe der Familie ab. Schönbauer nennt Zaatari „ein Symbol für die jordanische Gastfreundschaft und traditionelle Offenheit des Landes“. Jordanien habe sich in Sachen Flüchtlingshilfe sogar zu einem Modellland entwickelt. „Jeder Flüchtling kann hier eine Schule besuchen und hat Anspruch auf gesundheitliche Versorgung“, erklärt er weiter.

Wandgemälde in Zaatari
Wandgemälde in Zaatari Foto: Max Gutenkauf/MAE

Als weiteres Beispiel für die jordanische Willkommenskultur nennt er das Ergebnis einer Umfrage, das besagt, dass 96 Prozent der Jordanier Sympathie mit den Flüchtlingen äußern. Einige Flüchtlinge finden einen Job, was nicht selbstverständlich ist, bei der allgemein hohen Arbeitslosigkeit in Jordanien: Ungefähr jeder vierte Einwohner im erwerbsfähigen Alter ist davon betroffen. Die Flüchtlinge haben seit 2016 mit einem Flüchtlingsausweis die Möglichkeit, eine Arbeitserlaubnis zu beantragen. „Sie können legal einer Arbeit nachgehen“, sagt Schönbauer, „und sie wollen auch arbeiten.“ Vor allem im Agrarsektor werden sie fündig. Mit rund 70 Prozent der Arbeitskräfte bilden die Flüchtlinge das Fundament in der jordanischen Landwirtschaft. Doch die meisten gehen bei ihrer Suche nach einer Beschäftigung leer aus. Solange die syrischen Flüchtlinge nicht in ihr Heimatland zurückkehren können – „die Lage dort hat sich nicht verändert“, so der Österreicher – und sich keine dauerhafte Lösung in einem anderen Land anbietet, etwa ein Neustart in einem Drittland wie Kanada, beschränkt sich die Perspektive der Bewohner auf Zaatari. Andere sind weitergewandert, etwa nach Nordafrika, Europa oder in die Golfstaaten. „Manche bezahlen mit dem Leben“, weiß Schönbauer.

Ein großer Teil der Bewohner des Lagers besteht aus Kindern und Jugendlichen. Insgesamt besuchen 22.000 Kinder die etwa 30 Schulen in Zaatari – vom Kindergarten bis zum Abitur. „In einer Klasse sind 40 bis 45 Schüler“, sagt eine UNHCR-Mitarbeiterin. „Die Mädchen haben morgens Unterricht, die Jungs am Nachmittag. Diese Regelung geht auf den Wunsch der Eltern zurück.“ Die schulischen Leistungen der syrischen Kinder sind überdurchschnittlich gut, auch unter den Lehrern gibt es einige Syrer. Obwohl es manch einer zum Ingenieur schafft, sind die Aussichten nicht rosig. Schönbauer bedauert die allgemeine Perspektivlosigkeit. Zudem hätten die Bewohner gehört, dass einige Zielländer der Flüchtlinge den Fokus zunehmend auf deren Rückkehr richten, was eine starke Verunsicherung ausgelöst habe. „Umso mehr muss man in die Resilienz dieser Menschen investieren“, fordert der Sprecher des Hilfswerks. In einem der Zentren des Camps können im Nähatelier Bewohnerinnen ihren handwerklichen Fähigkeiten nachgehen oder sie erst erlernen. Eine Frau, die schon seit mehr als zehn Jahren in dem Lager lebt, hatte im Krieg einen Teil ihrer Familie verloren. „Ich musste Syrien verlassen“, sagt sie. Die Artikel, die sie anfertigen, wie Kerzen und Seife oder Handarbeiten, stehen zum Verkauf. In einem Malatelier gibt es die Kunstwerke der Bewohner. In einem anderen Gebäude ist ein Modell des Camps zu besichtigen – aus Lego. 

Auf den „Champs-Elysées“

Während der Fahrt mit dem Auto durch das Camp erklärt Roland Schönbauer, wie eigendynamisch sich Zaatari entwickelt hat: Bei der Fahrt durch die zentrale Marktstraße, die von unzähligen Läden gesäumt ist, erklärt er, dass die Straße „Champs-Elysées“ genannt wird. In mehr als tausend Geschäften bekomme man so gut wie alles – vom Handy bis zum Fahrrad. „Die Waren kommen von außen“, erklärt Schönbauer. Seit der Ankunft der Flüchtlinge habe sich der Umsatz in der nahen Stadt Mafraq um 20 Prozent erhöht, mehr als eine Milliarde US-Dollar wurde in die lokale Wirtschaft gepumpt. Auch ökologisch setzten die Camps des UNHCR Maßstäbe. So versorgen sich Zaatari und das andere große Flüchtlingslager in al-Azraq zu hundert Prozent aus Solarstrom. Das dortige Flüchtlingslager wurde zwei Jahre später eröffnet und liegt im Nordosten des Landes. Allerdings wurde das Gelände dort schon während des Zweiten Golfkriegs 1990/91 als Transitlager für vertriebene Iraker und Kuwaiter genutzt.

Andererseits haben die Bewohner verstärkt unter der Inflation in Jordanien zu leiden. Roland Schönbauer hat selbst von Familien gehört, die nun weniger zu essen haben, verdorbene Speisen verzehren oder sogar ihre Kinder zum Betteln schicken. Jordanien ist allgemein an die Grenzen seiner Aufnahmekapazität gelangt. Mit dem Krieg in Gaza und dem zu eskalieren drohenden Nahostkonflikt scheint Jordanien in Vergessenheit zu geraten, warnt der jordanische Außenminister Ayman Safadi bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Xavier Bettel an seinem Amtssitz. Auch wenn dem Land etwa von der Europäischen Union Finanzhilfen von mehr als einer Milliarde Euro seit 2016 bereitgestellt wurde, würden eine weitere Eskalation, etwa im Westjordanland, wo radikale jüdische Siedler die illegale Besiedlung mit offener Unterstützung der israelischen Regierung vorantreiben, und eine erneute Flüchtlingskrise das Land an den Rand des Kollapses führen. Die Ressourcen des Landes sind bereits jetzt stark strapaziert. Vor allem die Wasserknappheit ist in Jordanien ein Problem.

Neben dem UNHCR kümmert sich das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA). Dieses ist unlängst immer wieder in die Kritik geraten, als Israel der Organisation vorwarf, sie sei von der Hamas unterwandert. So würden etwa in Schulen antisemitische Inhalte vermittelt. Mehrere Länder beschlossen daraufhin, die Hilfen für die insgesamt 30.000 Mitarbeiter beschäftigende UNRWA zu kürzen. Davor hat Xavier Bettel eindringlich gewarnt: „Die Konsequenzen waren ihnen vermutlich nicht bewusst.“ Die israelische Regierung hatte sogar behauptet, UNRWA-Mitarbeiter seien an der Terrorattacke der Hamas am 7. Oktober 2023 beteiligt gewesen.

„Unersetzlich, unentbehrlich“

Vor einigen Tagen leitete Israel ein Verfahren ein, um die UNRWA als Terrororganisation einzustufen. Einige Länder stellten ihre finanzielle Unterstützung darauf ein. Luxemburg werde jedoch weiterhin helfen, sagte Bettel, der von einem „Hang zur Rache“ spricht – diese bestehe oft darin, dass nicht nur die Zielpersonen die Opfer sind, sondern auch die Zivilbevölkerung betroffen ist – und darauf hinwies, dass vergangene Woche in New York Mittel in Höhe von einer Million Euro für die UNRWA freigegeben wurden. Bettel war daran gelegen, seine Solidarität mit den Mitarbeitern der Organisation zu zeigen. Schon zu Beginn seiner Reise hatte er gesagt, dass es in einer Region wie Gaza „ohne UNRWA keine Schule, kein Krankenhaus und keinen Arzt“ gebe. Auch in Jordanien, wo die Mehrheit der Bevölkerung aus Palästinensern besteht oder palästinensischer Abstammung ist, stellt sie einen wichtigen Faktor dar.

Ein Untersuchungsbericht über die Neutralität der UNRWA hat keine größeren Missstände in dem Hilfswerk feststellen können. Dieses sei „unersetzlich und unentbehrlich“, hieß es in dem „Colonna-Bericht“, benannt nach der ehemaligen französischen Außenministerin Catherine Colonna, der Vorsitzenden der Untersuchungskommission. Doch zu den von Israel beschuldigten Personen, über die Israel eine Liste erstellt hat, wurde weiter ermittelt. Nach der Rückkehr aus Zaatari führte Xavier Bettels Jordanien-Besuch diesen zum Hauptsitz der UNRWA in Amman und zu deren Wadi Seer Training Center, einem Ausbildungszentrum der Hilfsorganisation, mit deren Mitarbeitern der Minister sich solidarisch erklärte.

In einem Gespräch mit palästinensischen Flüchtlingsfamilien erzählten die Betroffenen von ihren Schicksalen. Fatima zum Beispiel ist mit ihrem Mann, einem Dermatologen, der in Russland studiert hatte, und ihren vier Kindern aus Gaza City nach Jordanien gekommen. Die Familie habe eine Zeitlang in der Ukraine gelebt, in der Nähe der russischen Grenze, daher sei es der zweite Krieg innerhalb kurzer Zeit, den sie erlebe, sagt sie. „Ich habe hier leider noch keine Arbeit gefunden, mein Mann auch noch nicht“, sagt die 37-jährige gelernte Kommunikationsingenieurin. Sie sei traumatisiert von dem, was sie in Gaza erlebt habe. Bara, ihr 13-jähriger Sohn, zeigt ein Foto des komplett zerstörten Hauses der Familie. „Ich kann seither nicht mehr richtig schlafen“, erklärt Fatima. Ihre Familie lebe von den Ersparnissen, doch diese seien bald aufgebraucht. „Dabei wollen wir doch nur in Frieden und Würde leben.“ Ihre Kinder seien ihre Hoffnung, vor allem von Baras Leistungen seien die Lehrer beeindruckt. Er wolle einmal Polizist werden, sagt der Junge, dessen Name „Bara“ auf Arabisch „unschuldig“ oder „gerecht“ bedeutet.

Derweil hat Faris seinen Beruf so gut wie sicher. Der 22-jährige Sohn palästinensischer Flüchtlinge macht in dem Berufstrainingszentrum der UNRWA eine Ausbildung zum Automechaniker und ist im zweiten Jahr. Sein Ausbilder ist mit ihm zufrieden: „Faris macht sich gut. Er hat großes Talent. Wie überhaupt die Jungs gute Arbeit leisten.“ Dabei hätten es seine Eltern zuerst bereut, als sie geflüchtet waren. „Das war schon 1967, nach dem Sechstagekrieg“, sagt Faris. In dem Krieg mit den Nachbarstaaten Ägypten, Jordanien und Syrien besetzte Israel unter anderem den Gazastreifen und das Westjordanland. Sein Ausgang beeinflusst die geopolitische Situation der gesamten Region bis heute – und das Schicksal der Menschen. Für Faris dürfte die Flucht seiner Eltern letztendlich doch noch etwas Gutes haben – er ist in Jordanien integriert und macht seine Leidenschaft für Autos zum Beruf.