Auf Reisen mit „La Capsule“Künstlerin Nora Wagner: „Wir wollten die Kunst zu den Menschen bringen“

Auf Reisen mit „La Capsule“ / Künstlerin Nora Wagner: „Wir wollten die Kunst zu den Menschen bringen“
Machten mit ihrem Kunstprojekt an vielen Stationen halt: Kim El Ouardi (links) und Nora Wagner (rechts) Foto: Carole Theisen

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Dekorierte Bollerwagen und Gepäck: Nora Wagner und Kim El Ouardi zogen mit ihrem experimentellen, sozialen Kunstprojekt „La Capsule“ durch Luxemburg und Belgien. Das Tageblatt begleitete sie ein Stück. 

„Wir wollten die Kunst aus dem traditionellen Museumskontext befreien und sie zu den Menschen bringen.“ Mit diesen Worten beschreibt die Künstlerin Nora Wagner ihr ehrgeiziges Projekt „La Capsule“, das sie gemeinsam mit ihrem Partner und Videografen Kim El Ouardi mit nur zwei handgezogenen Wagen und einem Rucksack auf dem Rücken auf einen monatelangen Roadtrip durch die Wälder, Dörfer und Straßen Luxemburgs und der Grenzregion führte.

Es war jedoch nicht nur eine Reise durch die Natur, sondern eine Performance, ein lebendiges Kunstwerk, eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Menschsein und den Herausforderungen des modernen Lebens. Das Ergebnis dieser Reise wird in einem Low-Fi-Roadmovie münden, der die künstlerischen Interventionen, die Begegnungen und die poetischen Momente von „La Capsule“ dokumentiert. „Wir wollten etwas schaffen, das uns aus unserer Komfortzone herausbringt und gleichzeitig einen Raum für Begegnungen öffnet“, sagt Wagner. „Es ging uns auch darum, die Schönheit und den Reichtum der Wälder zu zeigen“, erklärt sie. „Und wie wichtig es ist, diese zu schützen.“ In diesem Sinne war die gesamte Reise bewusst darauf ausgerichtet, den ökologischen Fußabdruck so gering wie möglich zu halten.

Unbezahlbare Unterstützung

Während ihrer Reise wurden Wagner und El Ouardi von einer bunt gemischten Gruppe von Künstler*innen und Kreativen begleitet, bestehend aus Talenten wie Tania Soubry, Jennifer Lopes Santos, Julie Schröll, Moritz Schönecker, Marius Alsleben und vielen weiteren, die eine dynamische Mischung an Disziplinen und Perspektiven in das Projekt einbrachte.

Von der materiellen und finanziellen Unterstützung durch Institutionen wie der Kulturfabrik, der Fondation Sommer und der „Œuvre nationale Grande-Duchesse Charlotte“ bis hin zur Gastfreundschaft derjenigen, die sie entlang des Weges trafen – die Wegbegleiter*innen von „La Capsule“ waren die unsichtbaren Fäden, die das Projekt in Bewegung hielten. „Ohne die Hilfe all dieser Menschen hätten wir es nicht geschafft“, sagt Wagner rückblickend. „Von den Freiwilligen, die uns immer wieder unterstützt haben, bis hin zu den Leuten, die einfach an unser Projekt geglaubt haben – das war die größte und wertvollste Unterstützung.“

Zu Besuch: Marie-Anne Lorgé (rechts) traf im Wald auf Nora Wagner (links)
Zu Besuch: Marie-Anne Lorgé (rechts) traf im Wald auf Nora Wagner (links) Foto: Carole Theisen

Eine Wegbegleiterin während des Projekts war die langjährige Freundin, Journalistin und Kunstkritikerin Marie-Anne Lorgé. „Ich kenne Nora schon seit sehr, sehr langer Zeit“, erzählt sie, als sie das Duo in den Wäldern bei Steinsel besucht. Für sie ist Nora jemand, „der immer außerhalb des Systems agiert – jemand, der nicht kommerziell denkt, sondern in Träumen und poetischen Welten arbeitet. Ich folge ihr stets, weil sie es schafft, die Grenzen der Kunst auszuloten und dabei die Menschlichkeit nicht aus den Augen zu verlieren“, sagt sie. „Das ist es, was sie so außergewöhnlich macht.“

Kunst auf Augenhöhe

„La Capsule“ war in jeder Hinsicht ein „Projet à l’échelle humaine“. Aber was bedeutet das eigentlich? Für Wagner ging es darum, ein Kunstprojekt zu schaffen, das man wortwörtlich tragen kann. Doch der Weg war kein Spaziergang. Die Wagen, die Wagner und El Ouardi mit sich zogen, wogen etwa 40 Kilo, hinzu kam das Gepäck auf ihren Rücken. Und immer wieder: Regen. „Die ersten zwei Monate hat es nur geregnet“, erzählt Wagner, „und viele Leute sind abgesprungen.“ Nur selten kamen sie mehr als zehn Kilometer am Tag voran. Gerade in diesen Momenten fanden sie das, wonach sie suchten: die Tiefe des Alltags. „Im Nachhinein merkt man erst so richtig, was man auf zehn Kilometern alles entdeckt, was man aufnimmt. Es sind so viele Eindrücke“, erinnert sich El Ouardi. „Aber was uns wirklich forderte, war die emotionale Belastung. Wir wurden mit schweren Lebensgeschichten konfrontiert.“ Oft trafen sie auf Menschen, die von der Gesellschaft aufgegeben wurden, Menschen ohne Zukunft und Perspektive. „Wenn du nicht mehr mithalten kannst, wirst du einfach fallen gelassen“, so Wagner.

Es fühlte sich oft an, als hätten wir die Apokalypse verpasst

Nora Wagner, Künstlerin

Das Projekt brachte jedoch nicht nur persönliche Erkenntnisse, sondern auch eine scharfe Kritik an der gesellschaftlichen und politischen Realität mit sich. „Die Politik in Luxemburg ist völlig auf dem Holzweg“, urteilt Wagner offen. „Die leeren Häuser, die sterile Landschaft, die Dominanz der Autos – das sind alles politische Entscheidungen, die unsere Gesellschaft in die falsche Richtung lenken.“ Diese Kritik durchzog die gesamte Reise wie ein roter Faden, immer wieder stießen sie auf verwaiste Dörfer, wo niemand auf den Straßen zu sehen war. „Es fühlte sich oft an, als hätten wir die Apokalypse verpasst“, meint Wagner traurig. Doch es gab auch ermutigende Momente. Menschen öffneten ihnen die Türen, waren neugierig, boten ihnen Wasser, Essen und Unterkunft an. „Das hat mich wieder ein bisschen mit den Menschen versöhnt“, sagt Wagner, „aber auf die Politik bin ich wütender denn je.“

Eine ihrer prägendsten Eigenschaften ist ihre starke Abneigung gegenüber Ungerechtigkeit. „Ich habe immer Schwierigkeiten gehabt, meinen Platz im System zu finden“, gesteht Wagner. „Die Kunst ist für mich ein Weg, meinen eigenen Raum zu schaffen.“ Sie öffnet diesen Raum für andere, lädt Menschen ein, mit ihr aus der Routine auszubrechen und neue Perspektiven zu entdecken. Das Projekt „La Capsule“ wurde zu einem solchen Fluchtort.

Die soziale Dimension

In der „Orangerie“ von Bastogne arbeiteten Wagner und El Ouardi zum Beispiel mit Jugendlichen zusammen, die aus schwierigen Verhältnissen stammen. Hier ging es um weit mehr als nur künstlerisches Schaffen. Es war eine Möglichkeit, den Jugendlichen Raum für Ausdruck und Selbstverwirklichung zu geben. In diesem Zentrum für zeitgenössische Kunst entstand ein kreativer Dialog über Heimat, Zugehörigkeit und Gewalt. Die französische Gastkünstlerin Cloé Decroix und Wagner führten einen Workshop durch, in dem die Jugendlichen Fahnen entwarfen – Symbole ihrer Sehnsüchte und Kämpfe. Das Thema: „Chez soi“ – Zuhause.

Zu Besuch in Bastogne: Jugendliche fertigten mit dem Team von „La Capsule“ symbolische Fahnen an
Zu Besuch in Bastogne: Jugendliche fertigten mit dem Team von „La Capsule“ symbolische Fahnen an Foto: Carole Theisen

Die Jugendlichen sollten ihre Visionen von Heimat, sowohl die positiven als auch die negativen, in einer Fahne verewigen. Malicia, eine der jungen Teilnehmerinnen, sprach offen über ihre Erlebnisse mit Mobbing und den Wunsch, andere auf das Thema aufmerksam zu machen: „Ich weiß, wie es ist, gemobbt zu werden. Ich will, dass die Menschen verstehen, wie schädlich das sein kann. Viele wachen erst auf, wenn es zu spät ist.“ Ein tiefer, bewegender Moment, der zeigte, wie die Kunst Räume für Dialog und Heilung öffnen kann.

„Die Arbeit mit Jugendlichen ist immer herausfordernd“, sagt Wagner. „Sie bringen ihre Lebensgeschichte mit, und es ist nicht immer leicht, damit umzugehen.“ Doch genau hier liegt für sie auch die Herausforderung und der Wert der Kunst: „Es geht darum, diesen Jugendlichen Ausdrucksmöglichkeiten zu geben, ihnen das Gefühl zu geben, dass sie es wert sind!“

Ein Ende, das kein Ende ist

Der ursprüngliche Plan von „La Capsule“ war, bis Ende August unterwegs zu sein und schließlich wieder in der Kufa in Esch/Alzette anzukommen. Doch irgendwann merkten die beiden Künstler*innen, dass sie am Ende angekommen waren – mental und körperlich. „Es war kein Abbruch“, betont Wagner. „Wir haben einfach gespürt, dass wir fertig sind. Wir hatten so viel Material gesammelt, dass wir daraus drei Filme hätten machen können.“

Ich habe jetzt das Bedürfnis, das Wesentliche zu lernen – wie man überlebt, wie man sich selbst versorgt, ohne zum Beispiel von einem Supermarkt abhängig zu sein. Ich habe gelernt, loszulassen.

Kim El Ouardi, Künstler

Am Ende der langen Reise zieht Wagner ein emotionales Fazit: Für sie war es eine Bestätigung dafür, dass Kunst nicht nur ein Spiegel der Gesellschaft ist, sondern ein Werkzeug, um sie zu verändern. „Ich will die Menschen zurück zu ihrer eigenen Vorstellungskraft bringen“, sagt sie. „La Capsule“ war für beide Künstler*innen außerdem eine Rückbesinnung auf das Wesentliche. El Ouardi spricht von einem inneren Drang, zu einem einfacheren Leben in der Natur zurückzukehren: „Ich habe jetzt das Bedürfnis, das Wesentliche zu lernen – wie man überlebt, wie man sich selbst versorgt, ohne zum Beispiel von einem Supermarkt abhängig zu sein.“ Es war eine tiefgreifende Erfahrung, die ihn enorm verändert hat: „Ich habe gelernt, loszulassen. Ich habe gemerkt, dass ich mein Leben so leben kann, wie ich es will – ohne mich an Normen anpassen zu müssen.“

Und nun beginnt die Nachbearbeitung: Aus all den Eindrücken, den Gesprächen und den Performances soll ein Film entstehen – ein Roadmovie, der die Zuschauer mit auf die Reise nimmt und im kommenden Jahr vorgestellt werden soll.

Warum „La Capsule“?

Das Wort „capsule“ kann vieles beschreiben: eine kleine Kapsel, die durch die Zeit reist und Geschichten erzählt; eine Art Zeitkapsel, oder sogar ein UFO. Es erinnert auch an den Begriff der „Capsule Wardrobe“ in der Mode – eine Garderobe, die sich auf das Wesentliche beschränkt. Vielleicht ist „capsule“ auch die Süßigkeit, die an eine Hostie erinnert und in ihrem Inneren prickelndes Pulver birgt und somit eine Metapher für die explosive Kraft der Kreativität, die in jedem steckt.

Unterwegs mit „La Capsule“: Kim El Ouardi und Nora Wagner
Unterwegs mit „La Capsule“: Kim El Ouardi und Nora Wagner Foto: Carole Theisen

Hier machte „La Capsule“ halt

30.4.: Start in der Kulturfabrik in Esch/Alzette
30.4.-2.5.: Wanderung von Esch nach Rümelingen mit Tania Soubry
2.-7.5.: Aufenthalt im Spektrum mit Tania Soubry
8.5.: Große Panne mit Abschleppdienst
9.-11.5.: Bau der neuen Fahrzeuge mit Adrien Lehnert und Alicia
11.-15.5.: Wanderung von Junglinster nach Grevenknapp
16.-24.5.: Wanderung von Grevenknapp nach Rindschleiden
24.-29.5.: Aufenthalt in Rindschleiden mit Julie Schröll und Moritz Schönecker
29.-30.5.: Wanderung von Rindschleiden nach Merscheid
30.5.-8.6.: Aufenthalt in Merscheid am Liewenshaff mit Marius Alsleben
9.-18.6.: Wanderung von Merscheid nach Ulfingen
18.-22.6.: Aufenthalt in Ulfingen im CNDS
22.-26.6.: Spaziergang von Ulfingen nach Limerlé
26.-28.6.: Aufenthalt in Limerlé im Périple en la Demeure
29.-30.6.: Aufenthalt in Limerlé – Frauenkreis – mit Svenja Weber und Natascha Bisbis
1.-3.7.: Wanderung von Limerlé nach Vielsalm
4.- 9.7.: Aufenthalt in Vielsalm im La S Grand Atelier
9.-18.7.: Wanderung von Vielsalm nach Bastogne mit Aurélie D’Incau
18.- 27.7.: Aufenthalt in Bastogne in der „Orangerie“ mit Cloé Decroix
28.7.-4.8.: Pause
4.-14.8.: Wanderung von Esch/Sauer nach Luxemburg-Stadt
15.-17.8.: Endstation und Abschlussfeier in Luxemburg-Stadt