Rede zur Lage der NationPathos und Paradigmenwechsel: Frieden zwischen Marktglaube und sozialem Umdenken

Rede zur Lage der Nation / Pathos und Paradigmenwechsel: Frieden zwischen Marktglaube und sozialem Umdenken
Premierminister Luc Frieden (CSV) hielt am Dienstag seine erste Rede zur Lage der Nation Foto: Editpress/Julien Garroy

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Zwei Tage nach der Europawahl hält Premier Luc Frieden seine erste Rede zur Lage der Nation. Wer nach dem Urnengang am Sonntag drastische Maßnahmen für die kommenden vier wahllosen Jahre erwartet hat, wird enttäuscht. Stattdessen gibt es viele vermeintliche Paradigmenwechsel – und ein paar echte.

Allzu viel Pathos steht Luc Frieden nicht gut zu Gesicht. Am Dienstagnachmittag hat Luxemburgs Premier seine erste Rede zur Lage der Nation gehalten. „Ein Rendezvous zwischen gestern und heute“, nennt er sie, „zwischen unserer Vergangenheit und unserer Zukunft.“ Frieden hängt die Erwartungen gleich zu Beginn seiner anderthalbstündigen Rede hoch: „Die Zukunft ist nicht fest geschrieben und sie ist nicht vorbestimmt. Die Zukunft geschieht nicht, wir schaffen sie.“

Allein, das Macher-Pathos, der Geist des Anpackens, es will nicht so ganz überspringen vom Rednerpult in den Saal. Frieden ist nicht Bettel, sein Duktus ist ruhiger, unaufgeregter, seine Sprechstimme leiser. Der kühle Vortrag liegt ihm mehr als die mitreißende Rede. Man merkt das beim Thema Europa, dem Frieden sich als Erstes widmet. Der Premier begrüßt die Stärkung der proeuropäischen Mitte bei den Europawahlen, zeigt sich aber ebenso besorgt über die Erfolge der Euroskeptiker in den Nachbarländern Deutschland und Frankreich. „Wir stehen zusammen oder wir fallen einzeln“, sagt Frieden. Das gelte für alle EU-Länder, aber vor allem für Luxemburg. Von da an sickern die emotionalen Töne mehr und mehr aus der Rede, der Analyst Frieden übernimmt das Steuer.

Der Markt, das wird auch in dieser Rede deutlich, er bleibt das Primat der Regierung Frieden. Wenn die Wirtschaft läuft, wird das Leben der Bürger besser. In Luxemburg, in Europa. Der europäische Binnenmarkt müsse gestärkt werden, so Frieden. Er unterstütze die Vorschläge des ehemaligen italienischen Premierministers Enrico Letta, der von der Notwendigkeit einer europäischen „Spar- und Investitionsunion“ spricht, um große private Sparvermögen innerhalb des EU-Wirtschaftsraums zu halten und nicht beispielsweise in die USA abwandern zu lassen. Eine Randnotiz, aber auch das einzige Mal, dass Frieden während seiner Rede das Wort „Sparen“ in den Mund nimmt. Tatsächlich finden sich auch in der ersten Rede zur Lage der Nation des neuen Premiers keine Sparmaßnahmen oder signifikante Gegenfinanzierungen für anvisierte Ausgaben.

Umdenken im Verständnis des Sozialstaats

Stattdessen gibt es an diesem Nachmittag einige mehr oder weniger neue Ideen und Projekte. Da ist zum Beispiel das bekannte Zwei-Prozent-Ziel bei den Verteidigungsausgaben der NATO-Bündnispartner. Hier steckt der Premier den Zeitrahmen zur Erreichung enger: Statt innerhalb der nächsten zehn Jahre soll Luxemburg das Ziel von zwei Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) schon bis spätestens 2030 erreichen. Zur Lösung der dringlichen Krise beim Wohnungsbau präsentiert Frieden einen Zehn-Punkte-Aktionsplan, in seinen Worten „ein Paradigmen- und Mentalitätswechsel“ für die Wohnungsbau-Prozeduren (s. Infokasten).

Der Zehn-Punkte-Aktionsplan für den Wohnungsbau

1. Das Prinzip „silence vaut accord“ („Schweigen ist Zustimmung“) soll nicht nur in den Gemeinden, sondern auch auf staatlicher Ebene angewandt werden. Noch in diesem Jahr sollen Bagatellgrenzen bei den Baugenehmigungen und bei staatlichen Genehmigungen eingeführt werden. Für kleinere Arbeiten soll so in Zukunft keine Genehmigung mehr nötig sein, nur noch eine „Notifikation“.
2. Die Vorgehensweisen bei Teilbebauungsplänen (PAP) und Allgemeinen Bebauungsplänen (PAG) sollen auf acht – statt wie bisher zwölf – Monate verkürzt werden.
3. Bis 2025 soll ein nationales „Standard-Bautenreglement“ mit einheitlichen Regeln aufgesetzt werden.
4. Es soll mit widersprüchlichen Normen Schluss gemacht werden. Dafür soll eine neue Kommission zwischen der ITM, dem CGDIS und dem Familienministerium geschaffen werden, die der einzige Ansprechpartner für den Bauherren ist und Unstimmigkeiten vermeiden soll. Dabei soll der „Service national de la sécurité dans la fonction publique“ (SNSFP) in die ITM integriert werden.
5. Alle Genehmigungsprozeduren sollen innerhalb der kommenden 24 Monate auf einer einzigen Plattform zentralisiert – und digitalisiert – werden.
6. Die nötigen Gesetzesänderungen für den „Remembrement ministériel“ sollen noch vor dem Sommer in der Chamber eingebracht werden.
7. Beim Thema Bauschutt sollen Regeln flexibler gemacht werden, sodass unter anderem die entsprechenden Lkws nicht mehr quer durchs Land fahren müssen.
8. In Sachen Umweltprozeduren sollen ebenfalls Regelungen vereinfacht werden, jedoch ohne den Naturschutz zu vernachlässigen. Unter anderem sollen dabei zehn Prozent einer neuen Wohnfläche für Grünflächen reserviert oder Gründächer genutzt werden.
9. Als erstes Land der EU soll in Luxemburg das Prinzip der „Compensation une fois pour toutes“ eingeführt werden. Das Jagdrevier geschützter Tiere soll dabei einfacher kompensiert werden können, ohne dafür eine Studie durchführen zu müssen. Das Revier werde dann auf Staatsrevier ohne hohes landwirtschaftliches Potenzial kompensiert – kombiniert mit einem Pestizidverbot auf diesen Gebieten.
10. Als zehnte Maßnahme soll die Schwelle, ab der eine Studie über Umweltauswirkungen bei einem neuen Bauprojekt gemacht werden muss, von zwei auf vier Hektar heraufgesetzt werden. (mb)

Luxemburg braucht mehr Wohnung. „Die Regierung ist angetreten, um mehr und schneller zu bauen“, so Frieden. Innerhalb des Bauperimeters sei noch Platz für 100.000 Wohnungen, „Terrain, das mobilisiert werden muss“. In den Details, wie genau diese Mobilisierung funktionieren soll, weicht Frieden nicht vom eingeschlagenen Weg seiner Regierung ab. Auch hier soll der Markt, durch staatliche Anreize angeregt, die Lösung bringen – ebenso bei der Schaffung von bezahlbarem Wohnraum, wo der Privatsektor stärker eingebunden werden soll. So weit, so bekannt.

Echte Neuigkeiten und wahrhaftige Paradigmenwechsel gibt es hingegen im Sozialbereich. Wo zu Beginn noch ein kalter neoliberaler Hauch durch Friedens Formulierungen weht („Es geht nicht um mehr Hilfen, sondern bessere Hilfen. Wir brauchen eine Politik der Effektivität, nicht der Popularität.“), versteckt sich ein radikales Umdenken im Verständnis des Sozialstaats: das Ende der Bittsteller-Position von Sozialhilfeempfängern. „Wo heute der Bürger noch alle Hilfen selbst kennen und anfragen muss, werden in Zukunft Verwaltungen bei anderen Verwaltungen nachfragen können, wann eine Person berechtigt ist, Hilfe zu erhalten. Der Staat kann dann proaktiv dem Bürger ein Formular zuschicken“, sagt Frieden, überraschend sozial für eine konservativ-liberale Regierung – vor allem, wenn man in Betracht zieht, dass vor wenigen Monaten in Deutschland die FDP ein ebensolches Projekt in der Ampelregierung vehement blockiert hat.

Strompreisdeckel und Indextranchen

In der für den Herbst angekündigten breiten gesellschaftlichen Debatte von Ministerin Martine Deprez über eine mögliche Reform des Rentensystems scheint Frieden mit seiner Rede vorab ein wenig die Temperatur regulieren zu wollen: „Egal und wie eine Reform aus der Debatte hervorgehen wird, eine Sache ist klar: Eine starke Allgemeinversicherung für jeden bleibt das Kernstück unseres Rentensystems.“ Mit dem Bettelverbot hat es auch ein anderes Reizthema dieser Tage in Friedens Ansprache geschafft, wenn auch weniger explizit. „Die Justizministerin wird den Code pénal modernisieren, um effektive Mittel gegen die aggressive Bettelei zu schaffen.“ Wobei diese vage Formulierung den Diskurs eher anzuheizen vermag, vor allem weil sie Elisabeth Margues Worten widerspricht, die bereits mehrfach angekündigt hat, den Code pénal zu modernisieren, um veraltete Gesetzestexte beispielsweise über das Vagabundieren und die einfache Bettelei zu streichen – nicht um Mittel gegen die aggressive Bettelei zu schaffen, die bereits existieren.

Ein paar konkrete Ankündigungen gibt es an diesem Nachmittag auch: So soll die Steuertabelle zum 1. Januar 2025 um weitere zweieinhalb Indextranchen angepasst werden. Zum selben Datum soll auch der Körperschaftssteuersatz für Betriebe von 17 auf 16 Prozent sinken, wie im Koalitionsvertrag versprochen. Aufgrund der weiterhin teuren Energiepreise soll für das Jahr 2025 außerdem ein Strompreisdeckel von 30 Prozent beibehalten bleiben, was der Hälfte der projizierten Preiserhöhung entspricht. Schon ab dem ersten Oktober dieses Jahres soll ein neues Klimabonus-Regime die alten Regelungen ablösen. Darin werden unter anderem die Zuschüsse für Elektroautos angepasst. Herkömmliche Elektrofahrräder werden nur noch für Empfänger der Teuerungszulage staatlich gefördert – stattdessen gibt der Staat bis zu 1.000 Euro beim Kauf eines Elektro-Lastenfahrrads hinzu.

Am Ende nennt Frieden seine Rede ganz nüchtern „einen Lagebericht“. Der Stand der Dinge im Staat Luxemburg eben. Wenig Neues, vieles beim Alten, möchte man schon schreiben, da schüttelt der Premier in seinen letzten Sätzen noch ein Schmankerl speziell für die Medien aus dem Ärmel: Das Recht der Presse auf Informationszugang – lange versprochen – soll noch vor dem Sommer als Gesetzesprojekt vorliegen.