ReportagePortsmouth und der Planet Uranus: Beobachtungen aus dem britischen Unterhaus-Wahlkampf

Reportage / Portsmouth und der Planet Uranus: Beobachtungen aus dem britischen Unterhaus-Wahlkampf
Labour-Aktivisten beim Aufstellen von Plakaten: Die Sozialdemokraten gehen sehr optimistisch in die Wahl vom Donnerstag Foto: AFP/Oli Scarff

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Unser Korrespondent Sebastian Borger hat sich in Portsmouth und Bath unter das Wahlvolk gemischt und die Kampagnen von Mandatsträgern und solchen, die es werden wollen, aus der Nähe angeschaut. Ein kleiner Roadtrip gespickt mit spontanen Meinungsänderungen, extraterrestrischen Partnerschaften und konservativer Verzweiflung.

In zwei Wahlkreise ist die südenglische Hafenstadt Portsmouth geteilt, weshalb die örtliche Politics Society auch zwei Befragungen mit den lokalen Bewerbern für die Parlamentswahl an diesem Donnerstag veranstaltet. Im Wochenabstand geht es dabei freundlich und gesittet zu, dafür sorgt schon der Versammlungsleiter. Zudem musste sich vorab anmelden, wer an einem der beiden Abende den zur Wahl stehenden Männern und Frauen Fragen stellen oder Beifall klatschen will.

Dass beide bisherigen Mandatsträger jeweils durch einen Hintereingang in den Festsaal der privaten Mädchenschule Portsmouth High gelotst werden müssen, hat sehr unterschiedliche Gründe, taugt also nicht als Beispiel für die gewiss vorhandene Politikverdrossenheit der Briten. Im Fall von Kabinettsministerin Penelope „Penny“ Mordaunt, die in Portsmouth-Nord erneut kandidiert, geht es ihrem begleitenden Polizeibeamten darum, auf unauffällige Weise die Begegnung mit einem Stalker zu vermeiden. Geredet wird darüber, dem Vorgang angemessen, nur hinter vorgehaltener Hand.

Eine Woche später ist sonnenklar, warum Labour-Mann Stephen Morgan aus Portsmouth-Süd den Haupteingang meidet: Dort halten zwei Protestlerinnen Plakate hoch, die den „Genozid“ im Gaza-Krieg anprangern und Morgan für sein Abstimmungsverhalten im Unterhaus kritisieren. Als eine junge Frau im Saal auf emotionale Weise das Thema anspricht, muss der Versammlungsleiter zum ersten und einzigen Mal einschreiten: Man solle die Frage ebenso „in Ruhe anhören“ wie die Antworten der fünf Männer und einer Frau auf dem Podium. So geschieht es. Routiniert legt Morgan die Position seiner Partei dar: Nach längerem Zögern befürwortet Labour nun den sofortigen Waffenstillstand und propagiert die Zwei-Staaten-Lösung.

Mit Kandidaten reden? Fast unmöglich

In keinem Wahlkampf der vergangenen 25 Jahre war es so schwierig, vor Ort mit den Kandidatinnen der beiden großen Parteien zu sprechen. Im britischen Mehrheitswahlrecht kommen zur Regierungsbildung fast immer nur die Konservativen oder die Labour-Party infrage. Mit ihrem mittlerweile fünften Premierminister Rishi Sunak sind die Tories nun seit 14 Jahren an der Macht. Die Umfragen stellen seit mindestens zwei Jahren einen Erdrutschsieg für Labour-Chef Keir Starmer in Aussicht. Umso spannender wäre es im Straßenwahlkampf, der auf der Insel üblich ist, mitzuerleben, wie die Menschen auf die Abgesandten der beiden Parteien reagieren.

Stattdessen klagen nicht nur ausländische Korrespondenten, sondern auch britische Kolleginnen über die fehlende Kooperation der Parteizentralen. Selbst wohlmeinende Parlamentarier lassen direkte Anfragen unbeantwortet, andere sagen mehr oder weniger höflich ab. So sind die Befragungen durch die Bürger, auf der Insel „hustings“ genannt, oft die einzige Gelegenheit, wenigstens ein paar Worte zu wechseln mit jenen Männern und Frauen, die von Freitag an eines der 650 Mandate im Unterhaus einnehmen werden.

Warum sie die Begleitung durch Journalisten ablehnen? Offenbar wollen die Tories nicht dabei beobachtet werden, wie die Wählerinnen ihren Frust über die Missstände im Land – ellenlange Wartelisten im Gesundheitssystem NHS, Abwasser-verseuchte Strände und Flüsse, unzuverlässige Eisenbahnen – abladen. Oder sie schämen sich für das Gebaren ihrer Parteifreunde: den Premierminister Boris Johnson und dessen Vertraute, die Lockdown-Partys feierten; Sunaks Umfeld, das mit Wetten auf den Wahltermin Tausende verdienen wollte, weshalb jetzt die Aufsichtsbehörde ermittelt.

Und die Opposition? In Portsmouth sagt Kandidat Morgan jenen Satz, den Politiker jeglicher Couleur stets im Munde führen: „Man darf sich nie sicher sein.“

Wenn die Unsicherheit einen auf den Beinen hält

So ähnlich drückt es auch Wera Hobhouse im 150 Kilometer weiter westlich gelegenen Bath aus. Wie Morgan kam die Liberaldemokratin 2017 ins Unterhaus, wie Morgan hat sie bei der jüngsten Wahl 2019 Zugewinne erzielt. Wer sich um die Leute im Bezirk kümmert, darf mit einem Amtsbonus von bis circa fünf Prozent rechnen. Deshalb können beide, Morgan und Hobhouse, nach menschlichem Ermessen ihrer Wiederwahl sicher sein. Der bestehende Rest Unsicherheit hält sie bis zuletzt auf den Beinen.

Die deutschstämmige Hobhouse allerdings hat in den letzten beiden Wochen ihre Helfer immer wieder sich selbst überlassen, um in angrenzenden Wahlkreisen auszuhelfen. Ihr Bekanntheitsgrad als Parlamentsabgeordnete soll den örtlichen Kandidatinnen helfen, was diese nötig haben: Den „anderen“ Parteien jenseits der beiden Großen widmen die britischen Medien höchstens zu Wahlkampfzeiten ein wenig Aufmerksamkeit. Die Libdems hoffen auf erhebliche Mandatsgewinne, bleiben aber in der öffentlichen Wahrnehmung im Schatten der Reform-Bewegung des Nationalpopulisten Nigel Farage.

In Bath teilt Hobhouse an einem schönen Sommerabend in der kühlen Bath Abbey das Podium mit der Reform-Kandidatin sowie sieben Männern. Neben den Kandidaten für Labour, Tories, Grüne und die linksradikale Workers Party sowie einem Unabhängigen stehen auch zwei vermummte Männer auf dem Wahlzettel. Diskussionen untereinander sind verpönt, alle neune dürfen zu jeder Frage Stellung beziehen, wenn sie auch, vorsichtig gesagt, nicht unbedingt immer eine Antwort geben. Der „postmoderne Kunstarbeiter“ Bill Blockhead (auf Deutsch: Dämlack) hält wenigstens nur stumm seine Slogans hoch, mit denen er etwa die Partnerschaft von Bath mit dem Planeten Uranus propagiert.

Im Festsaal der Portsmouther Privatschule geht es bei der Befragung der zwei Frauen und drei Männer, die für den Nordbezirk ins Unterhaus streben, um eher abseitige Themen wie die Frage, ob Eltern ihre Kinder daheim unterrichten dürfen. Labour-Kandidatin Amanda Martin beschränkt sich im Wesentlichen darauf, aus dem Programm ihrer Partei vorzulesen.

Das bisherige „sehr ehrenwerte“ Mitglied für den Wahlkreis hingegen spricht frei und elegant. Penny Mordaunt war Ministerin für Entwicklungshilfe und Verteidigung, diente zuletzt im Kabinett als „Lord President of the Council“. In dieser Funktion durfte die Reservistin der Royal Navy bei der Krönung von König Charles III. im vergangenen Jahr das zeremonielle Schwert tragen. An den Haustüren im Wahlkreis „brauche ich mich nicht vorzustellen“, berichtet sie dem Tageblatt schmunzelnd.

Retten wird die Prominenz aller Wahrscheinlichkeit nach auch die 51-Jährige nicht, da kann sie ihre Heimatstadt noch so sehr als „besonderen Ort“ anpreisen. In den sechs Wochen des Wahlkampfes, seit Premier Sunak im strömenden Regen seinen überraschenden Ruf an die Urnen bekannt gab, haben die Tories keinen Meter Boden gutmachen können. Wie bis zu zehn ihrer Kabinettskollegen steht auch Mordaunts politische Karriere vor dem vorläufigen Ende.

Horrorstorys über ausgebliebene Stimmzettel

24 Stunden vor dem Termin sind die Medien voller Horrorstorys über ausgebliebene Stimmzettel. Mindestens 45 Wahlkreise sollen davon betroffen sein; in einer Reihe davon entschieden bei der letzten Wahl wenige tausend Stimmen über Sieg oder Niederlage. Schon ist, nach dem bewährten Motto „Nach der Wahl ist vor der Wahl“, von allenfalls nötigen Nachwahlen die Rede.

Diese würden mitten in die Urlaubszeit fallen, spätestens von Mitte Juli an bleiben in England die Schulen geschlossen, normalerweise verschwindet dann auch das Unterhaus in die Sommerfrische. Das soll diesmal anders werden: Den Plänen des voraussichtlichen neuen Premiers Starmer zufolge müssen die frischgebackenen Parlamentarier diesmal nachsitzen, damit Labour erste wichtige Projekte wie die Planungsreform oder eine neuerliche Milliardenabgabe für die hochprofitablen Öl- und Gasfirmen auf den Weg bringen kann.

Premier Sunak persönlich schickt all jenen, die den Tories unvorsichtigerweise ihre E-Mail-Adressen überlassen haben, den letzten Tory-Wahlspot. „Letzte Warnung“, lautet die dramatische Überschrift. Im Filmchen selbst wird vor Labours „Supermehrheit“ gewarnt und vor den vermeintlichen Folgen einer Labour-Regierung für das Land gewarnt: Stromausfälle, Schulschließungen, Steuererhöhungen.

In Portsmouth soll am Wahltag weitgehend die Sonne scheinen, richtig warm wird es aber nicht werden, dafür sorgt die übliche frische Brise. Kein dramatisches Wetterleuchten, kein Gewitterregen, auch kein strahlend schöner Sommertag, mehr so ein typisch englischer Mischmasch. Sehen so nicht auch die Aussichten für die neue Regierung aus?