Politische TheorieRegression und Resilienz der Demokratie

Politische Theorie / Regression und Resilienz der Demokratie
Baustelle Demokratie: Eine elektronische Werbetafel zeigt Bilder von Donald Trump nach dem Attentat in Butler, Pennsylvania.  Foto: Eric Gay/AP/dpa

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Um die Demokratie ist es nicht gut bestellt. In vielen Ländern weltweit hat sie an Zuspruch verloren, während Autokraten auf dem Vormarsch sind. Dafür werden zahlreiche Ursachen genannt. Doch gibt es auch einen Ausweg?

Donald Trumps Wahlkampfrede in Butler im US-Bundesstaat Pennsylvania dauert erst wenige Minuten, als plötzlich Schüsse in der Arena unter freiem Himmel fallen. Der ehemalige US-Präsident fasst sich ans Ohr und duckt sich unter das Rednerpult. Sicherheitsleute schirmen ihn ab. Bevor sie ihn zu seinem Auto wegführen, richtet sich Trump mit Blutspuren im Gesicht auf, reckt die Faust in die Höhe und ruft: „Fight! Fight! Fight!“ Die Menge jubelt. Schon jetzt ist der Moment geschichtsträchtig, das Bild des kampfbereiten Politikers ikonisch. Die Szene macht ihn zum Action-Helden, zum Märtyrer. Und dreieinhalb Monate vor der Präsidentschaftswahl nahezu unschlagbar.

Bereits nach der für Amtsinhaber Joe Biden katastrophalen Fernsehdebatte hatten sich Trumps Chancen deutlich verbessert. Der Demokrat hinterließ dabei nicht den Eindruck, als wäre er dem höchsten Staatsamt gewachsen. Wenige Tage später entschied das Oberste US-Gericht, dass sich amerikanische Präsidenten im Dienst so ziemlich alles erlauben dürfen, weil sie absolute Immunität für offizielle Amtshandlungen genießen. Eine „Lizenz zum Gangstertum“ nannte dies CNN-Kommentator Van Jones.

Schwarze Tage der Demokratie

„Schwarze Tage der liberalen Demokratie“, schrieb der Spiegel angesichts der Tatsache, dass zugleich das rechtsextreme Rassemblement National (RN) in Frankreich im ersten Durchgang der Parlamentswahlen ein Drittel der Stimmen holte. Insbesondere die französische Linke hat – in einem Bündnis mit der politischen Mitte – im zweiten Wahlgang den Triumph noch verhindern können, das RN belegte lediglich den dritten Platz. Zumindest ist die unmittelbare Gefahr gebannt.

Das gescheiterte Attentat wird Trump nutzen. In den USA scheint einer autoritären Regierung der Weg geebnet. „Ein alter Albtraum in völlig neuer Version“, schreibt der deutsche Schriftsteller und F.A.Z.-Feuilleton-Redakteur Dietmar Dath, und der US-Sprachphilosoph Jason Stanley warnt vor einem faschistischen Regime. Letzterer hat sein Buch „Wie der Faschismus funktioniert“ (2018) während Trumps erster Amtszeit geschrieben. Stanley weist darauf hin, dass Trump einige Elemente des Faschismus verwendet, etwa das der Fake News, das schon die Nazis als politische Taktik verwendeten. In einem Interview mit der deutschen Zeitung der Freitag warnt Stanley davor, dass Trump in einer weiteren Amtszeit die demokratischen Institutionen zu verändern versucht. Dies habe er bereits in der ersten geschafft: „Er hat den Obersten Gerichtshof bereits komplett umgekrempelt. Der Supreme Court war unglaublich wichtig bei der Umsetzung von Trumps Agenda. Er hat alle Prozesse gegen Trump verzögert. Er hat akzeptiert, dass Trump für alles, was er als Präsident tut, Immunität genießt. Der Supreme Court gestaltet das Land um, ohne jede Legitimität.“

Das F-Wort

Den Faschismus- und Nazi-Vergleich aus dem historischen Werkzeugkasten zu holen, ist längst nicht mehr abwegig, sondern äußerst nützlich. „Wir brauchen einen neuen Faschismusbegriff“, forderte Berthold Franke in seinem Beitrag für die Blätter für deutsche und internationale Politik im Oktober 2023. Der Sozialwissenschaftler analysierte darin die Geschichte des F-Worts und identifizierte strukturelle Ähnlichkeiten des heutigen Rechtspopulismus mit dem Faschismus des 20. Jahrhunderts. Franke hat beobachtet, wie man sich in der Politikwissenschaft jahrelang dem Thema Populismus widmete, zum Beispiel in Jan-Werner Müllers Essay „Was ist Populismus?“ (2016). Ihm fiel dabei auf, dass ein „Ismus“ lange Zeit so gut wie gar nicht fiel: Faschismus.

Der Begriff schien desavouiert. Franke, der als Regionalleiter der Goethe-Institute für Südasien in Neu-Delhi gearbeitet hat und den Aufstieg Narendra Modis zum indischen Präsidenten verfolgte, weiß: „Orban, Trump und Bolsonaro, Erdogan, Putin und Modi – sie alle sind gewiss Populisten, aber verbindet diese Figuren nicht mehr als das?“ Etwa Ähnlichkeiten mit Hitler, Mussolini oder Franco? Die indische Schriftstellerin, Menschenrechts- und Umweltaktivistin Arundhati Roy weist darauf hin, dass ihr Heimatland zwar im Westen als „größte Demokratie der Welt“ gilt, aber unter dem Hindu-Nationalisten Modi längst einen anderen Weg eingeschlagen hat. Auf dem Subkontinent herrsche heute eine „Tyrannei der Mehrheit“, die zu einem vollständig entwickelten Faschismus zu führen drohe. Roy meint: „Wir sind zu Nazis geworden.“

„Zwischen den heutigen Ereignissen und denjenigen in Europa vor hundert Jahren gibt es zu viele Parallelen“, stellt Berthold Franke fest, „als dass man sich leisten könnte, auf einen starken, erneuerten Faschismus-Begriff zu verzichten.“ Der Historiker Timothy Snyder, wie Jason Stanley Professor an der Yale University in Connecticut, weist darauf hin, dass die Dolchstoßlegende für den Aufstieg der NSDAP die gleiche Rolle spielte wie die Legende der gestohlenen Wahl für Trump. Letztere sei für dessen Ideologie von zentraler Bedeutung: „Wenn man nicht akzeptiert, dass er 2020 um den Wahlsieg gebracht wurde, kann man heute kein Republikaner mehr sein.“

Trump als Märtyrer und Heiland

Die Republikanische Partei hat sich Trump bereits unterworfen. Viele liberale Amerikaner befürchten, dass seine zweite Amtszeit viel radikaler wird als die erste. Trump scheint nach Rache zu sinnen – an Biden, an den Demokraten, an der Justiz, am Beamtenapparat. Vielleicht auch an der Demokratie. Wenn er nicht nach dem Anschlag so versöhnliche Töne anschlagen würde. Das Attentat von Butler wird gravierende Folgen für die Präsidentschaftswahl im November haben. Schon davor war Trump für seine Anhänger eine mythische Figur. Die Evangelikalen darunter sind überzeugt, dass er von Gott auserwählt ist. Auf dem Parteitag der Republikaner in Milwaukee vor wenigen Tagen huldigten sie ihm als Märtyrer und Heiland, Held und Kämpfer für Amerika.

Religiöse Aufrüstung: Ein Kreuz wird für eine Gedenkfeier zu Ehren des Feuerwehrmanns entladen, der beim Attentat auf Trump starb
Religiöse Aufrüstung: Ein Kreuz wird für eine Gedenkfeier zu Ehren des Feuerwehrmanns entladen, der beim Attentat auf Trump starb Foto: Eric Gay/AP

Dabei spielt das Foto, das der Agenturfotograf Evan Vucci von Trump schoss, eine große Bedeutung. Es erinnert an jenes von Joe Rosenthal aus dem Jahr 1945, das zeigt, wie US-Marines auf Iwo Jima das Sternenbanner hissen. „Die erhobene Faust ist eigentlich ein Symbol der Linken, berühmt geworden als Zeichen des republikanischen Widerstands gegen Franco im Spanischen Bürgerkrieg, so wie auf Joan Mirós Plakat ‚Aidez l’Espagne‘ aus dem Jahr 1937“, erklärt der britische Kunstkritiker Jonathan Jones, der für The Guardian schreibt. „US-Neonazis verwenden heute eine weiße geballte Faust vor schwarzem Hintergrund.“

 „Dieses Bild zeigt uns, wie eine zweite Amtszeit aussehen wird. Blutsbande zwischen Führer und Volk. Aufopferung, Wiederauferstehung – nichts davon passt in die routinierte Langeweile stabiler Demokratien“, befürchtet Jones. Was geschieht mit denen, die sich nicht Trumps Bewegung „Make America Great Again“ (MAGA) unterwerfen? Es soll Amerikaner geben, die bereits mit dem Gedanken spielen, ins Exil zu gehen. Die US-Verfassungsrechtlerin Kimberly Wehle, die für ABC News arbeitet, warnte kürzlich im Spiegel vor einer künftigen Diktatur. Die Demokratie hänge „am seidenen Faden“.

Rechtspopulistische und rechtsextremistische Parteien erzielen Erfolge bei Wahlen, das Vertrauen vieler Bürger in die demokratischen Akteure und Institutionen ist gesunken. Auch wenn die Wahlsiege von Joe Biden (2020), Lula da Silva in Brasilien (2022) und Donald Tusk in Polen (2023) sowie des linken Nouveau Front Populaire in Frankreich (2024) die Hoffnung wecken, dass sich die Demokratie resilient genug zeigt, bleibt der Druck, unter dem vor allem die liberale Demokratie steht, bestehen. Und zwar nicht nur von den extremistischen Rändern her, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft.

Zwischen Provokation und Verharmlosung

In Deutschland hat es die rechtsextremistische AfD geschafft, nach Umfragen zweitstärkste Partei zu werden. In die bevorstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen geht sie als klarer Favorit. Die Neue Rechte setze auf eine Mischung aus Provokation von Scharfmachern wie dem thüringischen AfD-Chef Björn Höcke und Selbstverharmlosung respektive Entdiabolisierung wie dem Rassemblement National unter Marine Le Pen und Jordan Bardella, beobachtet der Politikwissenschaftler Markus Linden von der Universität Trier. Er spricht von einem „Aufstieg der Mosaik-Rechten“, die einerseits mit liberal-demokratischen Werten argumentiere und gleichzeitig die liberalen Eliten brandmarke. Ihre Strategie, kulturelle Hegemonie mithilfe negativer Gegenöffentlichkeit zu erlangen, so Linden, drohe aufzugehen.

Thüringens AfD-Chef Björn Höcke am 29. Juli 2023: zwischen Machtanspruch und Maskerade
Thüringens AfD-Chef Björn Höcke am 29. Juli 2023: zwischen Machtanspruch und Maskerade Jens Schlüter/Rückblende/dpa

Die Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte hat Ende Juni dem Thema „Demokratie in Gefahr?“ eine ganze Ausgabe gewidmet. Susanne Pickel erklärt darin, wie sich mehr und mehr populistische und autoritäre Komponenten miteinander vermischen. Dadurch werde die Legitimität der Demokratie zunehmend infrage gestellt, meint die Politologin von der Universität Duisburg-Essen. Sie wirft die Frage auf, was Demokratie überhaupt bedeutet, und stellt fest, wie variabel die demokratischen Eigenschaften sind. Der Begriff der Demokratie hat sich in einem ständigen Wandel befunden. Nach wie vor gibt es unterschiedliche Vorstellungen davon.

Pickel nennt unterschiedliche Modelle politischer Systeme mit spezifischen normativen Ansprüchen an die Demokratie (siehe Kasten). Wenn die Minimalkriterien wie Wahlen nicht mehr erfüllt werden, spricht man von defekten Demokratien, hybriden Regimen oder Autokratien. Wenn zwar noch freie Wahlen stattfinden, aber bürgerliche Freiheiten und Rechte nur noch eingeschränkt gewährt werden, spricht man von „elektoralen Demokratien“. In Fällen wie Ungarn spricht man von illiberalen Demokratien. Weder sie noch Autokratien wie Russland oder die Türkei, wo das Wahlrecht für Teile der Bevölkerung beschnitten sowie bürgerliche Freiheiten und politische Rechte nicht gewährleistet werden, sind vollständige demokratische Ordnungen.

Derweil gelten viele westliche Demokratien als „freie“ Demokratien. Allerdings weisen ausgerechnet die USA heute große Demokratiedefizite auf. Mit den Daten des World Values Survey, einer internationalen Vergleichsstudie zur Messung politischer Werte und Einstellungen, lassen sich liberale Demokratien von anti-liberalen und nicht-liberalen sowie sozialen Varianten unterscheiden. Dabei hat sich das Verständnis von Demokratie gewandelt. Die Überzeugung, Demokratie sei eine politische Ordnung, die ihren Bürgern umfangreiche Freiheiten und Rechte einräumt, geht zunehmend verloren. Populistische Komponenten steigen.

Demokratische Malaise … 

Dass es um die Demokratie nicht gut bestellt ist, gilt momentan schon als Allgemeinplatz. „Pessimistische Niedergangs- und Krisendiagnosen haben Konjunktur“, stellt der in Darmstadt lehrende Politikwissenschaftler Veith Selk fest. „Demokratische Regime büßen an Qualität und Quantität ein, sie werden durch Antidemokraten bedroht, versagen bei der Lösung öffentlicher Probleme und verlieren allmählich auch in der gesellschaftlichen Mitte an Unterstützung. Solche Diagnosen fallen auf den fruchtbaren Boden einer sich verdüsternden öffentlichen Meinung.“

Dass es nicht „die“ Demokratie gibt, darüber sind sich die meisten Wissenschaftler einig. „Demokratie gibt es nur im Plural“, betont Selk, es existiert „eine Vielzahl heterogener demokratischer Regime“. Diese verfügten über „unterschiedliche Potenziale zur Widerstandsfähigkeit gegenüber systemischen Krisen und antidemokratischen Herausforderern“. Selke beschreibt in seinem Essay „Demokratische Malaise“ das „demokratische Credo“, das begriffliche Konstrukt eines Idealtyps, das sowohl ein liberales und republikanisches als auch ein soziales und gouvernementales Element enthält.

Der Politologe erkennt darüber hinaus in dem Versprechen der Hebung des Lebensstandards der Mehrheit der Bürger einen Legitimationsfaktor für die Demokratie, „samt Aussicht auf weitergehende Verbesserungen für die folgende Generation“. Selke spricht vom „demokratischen Kapitalismus“. Demokratie und freier Markt wurden vor allem beim Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Mittel- und Osteuropa und mit der damit einhergehenden Demokratisierung als zwei Seiten einer Medaille betrachtet.

Der an der Humboldt-Universität Berlin lehrende Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel, Autor des Buches „Im Zwielicht, Zerbrechlichkeit und Resilienz der Demokratie im 21. Jahrhundert“ (2023), geht der Frage nach der Widerstandsfähigkeit der demokratischen Systeme nach. Die liberale Demokratie sei zwar zerbrechlich und stehe unter Druck, auch habe „ihre Qualität in den vergangenen Jahren weltweit teils signifikant nachgelassen“. Gleichwohl seien die Demokratien der Regression nicht hilflos ausgeliefert. Merkel: „Sie besitzen Resilienzpotenziale, die aber aktiviert werden müssen.“

Noch mal gut gegangen: Feier nach dem Sieg der Linken in Paris am 7. Juli 2024. 
Noch mal gut gegangen: Feier nach dem Sieg der Linken in Paris am 7. Juli 2024.  Foto: Sadak Souici/ZUMA Press Wire/dpa

Die Demokratieverluste politischer Systeme zeigten sich vor allem in unterschiedlichen Ländern wie Polen, Ungarn, Italien, Brasilien, Israel, der Türkei oder den USA. „Die besten Zeiten der Demokratie, auch in ihrer entwickelten rechtsstaatlichen Form, scheinen zunächst vorbei zu sein“, schreibt der Politologe. Es seien nicht nur hybride Regime, sondern auch reife, etablierte Demokratien wie Frankreich, Großbritannien, Österreich und die USA betroffen, zum Teil auch Deutschland. Merkel empfiehlt, die Begrifflichkeit zu „entdramatisieren“. Auch er betont, dass nicht undifferenziert von „der“ Demokratie im Singular gesprochen werden könne.

… und demokratisches Credo

Merkel nennt die Herausforderungen, mit denen die liberaldemokratischen Systeme momentan konfrontiert sind und die eine multiple Krise ergeben. Dazu zählen der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Migration, die Klimakrise und die Wahlerfolge der Rechten. Letztere können nach den Worten des spanischen Politikwissenschaftlers Juan Linz „semi-loyal“ bis „antisystemisch“ sein. Anders als während der Weimarer Republik gebe es etwa in Deutschland „keine klare zentrifugale Tendenz“. Neben den demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen gibt es nach wie vor starke politische Organisationen aus der Zivilgesellschaft, denen eine große Bedeutung als „watchdogs“ einer „monitory democracy“ zukomme. Allerdings weist Merkel darauf hin, dass sich auch auf der Rechten zivilgesellschaftliche Netzwerke organisiert haben: Dazu gehören etwa Pegida und Reichsbürger. Er spricht von der „dunklen Seite der Zivilgesellschaft“.

Die Kieler Professorin für Politische Theorie, Paula Diehl, warnt vor einer Normalisierung rechtsextremer Inhalte. Dies ist nicht zuletzt in Ländern wie Ungarn und Italien geschehen, wo Rechtspopulisten – Diehl bezeichnet Rechtspopulismus als „Mischung aus Populismus und rechtsextremen Ideologemen“ – die Regierung stellen oder zumindest an ihr beteiligt sind. Diese Gefahr besteht aber auch in den USA. Die Rechte spiele häufig mit rhetorischen Tricks. Trumps früherer Berater Steven Bannon etwa sei ein Meister dieser „kalkulierten Ambivalenz“.

In Ländern wie den genannten, aber auch in Österreich, wo die FPÖ auch etliche Rückschläge und Skandale überstanden hat und im Herbst auf einen weiteren Wahlsieg zusteuert, sind jene Ideologeme bereits in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die oft und ebenfalls in Luxemburg von den Regierungsparteien immer wieder beschworene „gesellschaftliche Mitte“ galt lange Zeit als Stabilitätsanker der Demokratie, doch mehr und mehr zeigt diese Mitte demokratiedistante und -feindliche Merkmale, wie eine im Januar und Februar 2023 erfolgte Studie der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung herausfand. Häufig wird zwar die soziale Ungleichheit als Grund für die demokratische Krise genannt, trifft aber nicht allein zu. Die eigentliche Gefahr für die Demokratie entspringt der Mitte der Gesellschaft.

„Banalität des Autoritarismus“

Rechtsgerichtete Kräfte werden unterstützt von „halbloyalen Demokraten“, die öffentlich auf Distanz zu den Extremisten gehen, aber insgeheim mit ihnen zusammenarbeiten, erläutern Steven Levitsky und Daniel Ziblatt. Die beiden Harvard-Politologen wurden 2018 durch ihr Buch „Wie Demokratien sterben: Und was wir dagegen tun können“ berühmt. Ihr neues Werk heißt „Tyrannei der Minderheit. Zur Zukunft der amerikanischen Demokratie“ und handelt u.a. von der zunehmenden „Banalität des Autoritarismus“. Antidemokratische Einstellungen gehören demnach mittlerweile zum Mainstream: So waren 1995 etwa 25 Prozent der Amerikaner mit ihrer Demokratie unzufrieden, 2020 waren es bereits 55 Prozent.

Die ersten vier Jahre Trump-Präsidentschaft, vier Jahre des Niedergangs, mündeten am 6. Januar 2021 in einen von Trump selbst angezettelten gewalttätigen Aufstand, den Sturm auf das Kapitol, das geografische Herz der US-Demokratie. Die Demokratie hat überlebt, aber nicht etwa, weil das Verfassungssystem so stabil war. Im Gegenteil: Es ist ausgesprochen reformbedürftig, angefangen beim äußerst unfairen Wahlsystem. Die Demokratie hat überlebt, weil nach den Worten von Levitsky und Ziblatt „amerikanische Bürger, die sich um das Überleben ihrer Demokratie sorgten, sich zusammentaten, um sie zu verteidigen“ Doch wie lange ist das noch möglich? Wann sind die Kräfte der aufrechten Demokraten erschöpft?

Wohin führt Trump die USA? Wohin steuert die Demokratie?
Wohin führt Trump die USA? Wohin steuert die Demokratie? Eric Gay/AP/dpa

Demokratieformen (neben der Einteilung z.B. in repräsentative und direkte Demokratie)*

  – Die liberale Demokratie basiert auf der individuellen Freiheit und dem Schutz des Einzelnen, sie gilt als Standardmodell nach dem „westlichen“ Verständnis von Demokratie; Minderheiten werden geschützt;
– Volksdemokratien sehen den Volkswillen als alleinige Grundlage für politische Entscheidungen und streben die unbegrenzte Souveränität des Volkes an;
– das libertäre Demokratiemodell setzt die individuelle Freiheit absolut; die Rolle des Staates beschränkt sich auf grundlegende Infrastrukturen; Minderheiten erfahren keinen Schutz, soziale Gleichheit wird ignoriert;
– Die sozialistische Demokratie strebt nach Gleichheit und Solidarität durch Ressourcenumverteilung, der Staat greift lenkend ein, um soziale Ungleichheiten auszugleichen;
– Das republikanische Modell setzt auf die aktive Beteiligung der Bürger am politischen Leben, im Gegensatz zur repräsentativen Demokratie, bei der die Mitbestimmung meistens auf die Wahlen reduziert ist;
– In partizipativen Demokratien werden basisdemokratische Elemente stärker betont, direkte Volksabstimmungen spielen eine zentrale Rolle und können auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene stattfinden;
– Feministische Ansätze thematisieren die Geschlechterungleichheit in Demokratien und fordern die gleichen Teilhaberechte für Frauen und andere marginalisierte Gruppen.
* nach Susanne Pickel in Aus Politik und Zeitgeschichte 27/2024 

 

Lucilinburhuc
22. Juli 2024 - 10.16

Gute Analyse.Schade nur dass das Gefolge der Rechtspopulisten nicht den Grips, Mut und Willenskraft haben, sich in diesen Gefilden gedanklich zu tummeln.