Neues SchulfachRussland bringt seinen Schülern das „warme Gefühl der Liebe“ bei

Neues Schulfach / Russland bringt seinen Schülern das „warme Gefühl der Liebe“ bei
Eine russische Schülerin geht am ersten Tag des neuen Schuljahres in Sankt Petersburg an einem Plakat zu Ehren eines russischen Soldaten vorbei Foto: AFP/Olga Maltseva

Jetzt weiterlesen! !

Für 0.99 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

In russischen Schulen hat am Montag der Unterricht wieder angefangen. Ein neues Fach soll Kinder ihre „russländische Identität“ lehren – anhand von „Ehe, kinderreicher Familie und Keuschheit“.

Es stehe schlecht um das Überleben ihrer geliebten russischen Heimat, sagt die bald 70-jährige Duma-Abgeordnete Tatjana Larionowa in Moskau. Die Geburtenrate zu niedrig, die Scheidungsrate zu hoch, das Land befinde sich am „demografischen Abgrund“. Und wo, wenn nicht in der Schule, könnten Kinder lernen, worauf es ankomme: auf „Ehe, kinderreiche Familien und Keuschheit“? Die Schule ist in Russland, wie zu Sowjetzeiten, längst zur Anstalt der Indoktrination geworden.

Am gestrigen Montag, dem sogenannten „Tag des Wissens“, fängt russlandweit der Unterricht wieder an. 34 Stunden im Schuljahr, genauso viel wie etwa Chemie in der Oberstufe, soll das neue Fach „Familienführung“ für Schüler ab Klasse fünf einnehmen. Als Pflichtfach ist es nicht gedacht. Das waren auch die sogenannten „Gespräche über Wichtiges“ nie, die Stunde, in der bereits Drittklässler lernen, dass es nichts Wichtigeres im Leben gebe, als für sein Vaterland zu sterben. Wer sie nicht besucht, bekommt allerdings zuweilen Probleme mit dem Schulamt oder gleich mit dem Geheimdienst. Für den Schulanfang steht bei den „Gesprächen“ wieder ein „patriotisches“ Thema an: „Unsere Zukunft“. Russland, das durch seinen Überfall auf die Ukraine vielen die Zukunft genommen hat, bespricht in den Klassenräumen, wie hell das Morgen sei, während der Krieg – auch im eigenen Land – einigen Kindern in diesen Klassenräumen Väter und Mütter nimmt.

Ähnlich hohl verhält es sich mit den allgegenwärtigen „Familienwerten“, die die „russländische Identität“ formten. Im vergangenen Dezember hatte Russlands Präsident Wladimir Putin das Jahr 2024 zum „Jahr der Familie“ erklärt. „Familie“ – und das ist im Verständnis der russischen Politik eine „vollständige Familie, also Mann und Frau, samt drei und mehr Kindern“ – solle popularisiert, ja zur sozialen Norm werden.

„Ist Papa zu Hause das Oberhaupt?“

Alleinerziehende, Familien mit einem Kind, kinderlose Familien, Alleinstehende ohnehin werden so immer mehr als etwas „Unnormales“ gesehen. Dass Männer von der Front nicht mehr nach Hause kommen und die „Vollständigkeit der Familie“ schon allein dadurch nicht erreicht wird, spielt da keine Rolle. Zudem ist es in Russland nicht untypisch, dass Kinder bei Mutter und Großmutter aufwachsen. Homosexuelle Beziehungen gelten im Land als „extremistisch“, queere Familien mit und ohne Kinder existieren für den Staat somit nicht.

Während in den USA, so heißt es im Handbuch zum neu eingeführten Fach, bereits die Kleinsten mit Sexualkundeunterricht „malträtiert“ würden, sollen russische Kinder viel über das „warme Gefühl der Liebe“ erfahren. An staatlichen russischen Schulen gibt es bis heute keinen Aufklärungsunterricht. „Familienführung“ besteht aus fünf Blöcken. In „Mensch, Familie und Gesellschaft“ sollen die Kinder lernen, wie sie einen „richtigen Begleiter fürs Leben“ finden. „Nicht jeder lebt in einer vollständigen Familie, aber jeder sollte eine vollständige Familie anstreben, denn nur damit wird man glücklicher“, sollen Lehrer an ihre Klasse richten. In „Meine Verwandten“ sollen Schüler ankreuzen, inwieweit die Mutter die Rolle der Köchin, der Putzfrau, der Hausaufgabenhilfe erfülle, ob sie stricken mag oder lieber lesen. Die Rolle des Vaters müssen sie dabei weder kategorisieren noch bewerten. „Ist Papa zu Hause das Oberhaupt?“, sollen Lehrer fragen.

In „Familiäre Wärme und nicht nur“ sollen die Schüler in Tabellen ihr „Verhalten in der Familie“ bewerten und Punkte vergeben, welche Tätigkeiten sie im Haushalt übernähmen. Als Tipps für eine „wohlige Atmosphäre daheim“ wird ein „Familienspaziergang“ vorgeschlagen oder auch empfohlen, „gemeinsam zu putzen“. In den Klassen zehn und elf sollen sich die Jugendlichen „Wissen über die intimen Aspekte des menschlichen Lebens“ aneignen. Was diese „Aspekte“ ausmacht, wird nicht erklärt. 13 von 34 Stunden sind dem Block „Familien und ihr Alter“ gewidmet. Hier heisst es, junge Frauen seien mit 20 bis 22 Jahren bereit zum Heiraten, junge Männer mit 23 bis 28. Da hätten sie eine „bürgerliche Reife und ein moralisches Bewusstsein“. In den Krieg eingezogen werden bereits 18-Jährige, offenbar ohne jegliche „Reife“.

„Fächer wie dieses rauben den Kindern ihre Persönlichkeit. Der Staat erzählt ihnen hier über die einzig wahre Art der Liebe, der Familie, des Aufwachsens. Es ist absoluter Mist“, sagt der mittlerweile im Exil lebende Pädagoge Dima Zicer. Genau darum aber geht es dem russischen Staat: dass die Menschen ohne jeglichen Zweifel aufwachsen.

De Boeuf Filet
3. September 2024 - 12.57

Und wie sieht's mit Steuern aus?