E Bléck duerch d’Lëns„Sehen und nicht gesehen werden“

E Bléck duerch d’Lëns / „Sehen und nicht gesehen werden“
Vier Tage nach der Befreiung wird dieses Foto vor dem Ausgang „Bunker Eisekaul“ aufgenommen, darunter Ernie Reitz (zweite von links) und ihre Schwester Marie Maintz-Reitz (zweite von rechts), 1944 Foto: MNRDH

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Der 31. August ist ein Schlüsselmoment in der luxemburgischen Erinnerungskultur an die deutsche Besatzungszeit. Jährlich finden zahlreiche Gedenkfeiern an diesem Tag statt. In Esch spielte Ernestine Reitz eine entscheidende Rolle im Widerstand und nahm aktiv am Streik teil. Dennoch bleibt ihre bedeutende Stellung über Jahrzehnte hinweg unbeachtet.

Die am 23.10.1905 in Esch geborene Ernestine, „Ernie“ Reitz führt zusammen mit ihrer Schwester Marie ein Haushalts- und Spielwarengeschäft in der avenue de la Gare. Nach der Besetzung durch die Nationalsozialisten treten beide der Widerstandsbewegung LRL, dem Lëtzebuerger Roude Léiw, bei. Ihr Geschäft wird durch den Durchgang der Kunden zu einem unauffälligen Treffpunkt des Widerstands. Die Schwestern organisieren von hier aus u.a. die Verpflegung französischer Kriegsgefangener und nutzen die Netzwerke des LRL, um Geflüchtete zu verstecken, sowie Unterkünfte und Fluchtwege zu arrangieren.

Zwangsrekrutierung und zunehmende Flüchtende

Am 30. August 1942 verkündet Gauleiter Gustav Simon die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht für die Jahrgänge 1920 bis 1924. Diese Ankündigung stößt auf große Gegenwehr. In den frühen Morgenstunden des 31. August 1942 legen die Angestellten der IDEALLederfabrik in Wiltz daraufhin ihre Arbeit nieder. Über den Norden schwappen die Streikherde auf den Süden des Landes über, wo noch am Abend im ARBED-Werk von Esch-Schifflingen ca. 500 Arbeiter sich dem Streik anschließen. In Esch weigert sich Ernie Reitz, ihr Geschäft zu öffnen, und bewirkt, dass weitere Lokale sich ihr anschließen.

Die Serie

In der Rubrik „E Bléck duerch d’Lëns“ liefern die Historiker*innen André Marques, Julie Depotter und Jérôme Courtoy einen mikrohistorischen Blick auf verschiedene zeitgeschichtliche Themen.

Die Historikerin Julie Depotter
Die Historikerin Julie Depotter Foto: Editpress/Hervé Montaigu

Als Reaktion auf die Streikbewegungen wird der Ausnahmezustand über das Land verhängt und ein Standgericht unter Leitung von Gestapo-Chef Fritz Hartmann eingeführt. Vor diesem werden 20 willkürlich ausgewählte Streikteilnehmer zum Tode verurteilt und in einem Wald beim KZ Hinzert hingerichtet. Vom Sondergericht verurteilt wird ein weiterer Streikteilnehmer, Hans Adam, später im Gefängnis Köln-Klingelpütz enthauptet. Hunderte werden inhaftiert und in Konzentrationslager verschleppt. Der brutale Niederschlag der Streikherde und die Zwangsrekrutierung verkörpern einen Wendepunkt für den luxemburgischen Widerstand. Das persönliche Betroffensein der Luxemburger, deren Angehörige in den Krieg ziehen sollen, lässt viele, die der Besatzung bis dato noch abwartend gegenüberstanden, sich dem Widerstand zuwenden.

Die Aktivitätsbereiche des Widerstands wandeln sich: Neben der patriotischen Gegenpropaganda wird nun die Organisation von Fluchtplänen, Versteckplätzen und die Verpflegung der Versteckten zur Priorität. Luxemburger, die sich der Wehrpflicht entziehen oder desertieren, riskieren die Todesstrafe sowie die Umsiedlung ihrer Familienangehörigen. Auch diejenigen, die den „Jongen“ bei der Flucht oder beim Untertauchen behilflich sind, riskieren ihr Leben. Mit der Zeit werden die Versteckplätze bei Privatpersonen im Land und die Flucht über die Grenze immer riskanter. Es müssen Alternativen gefunden werden.

Der Bunker Eisekaul

Zusammen mit Vertrauenspersonen der Widerstandsgruppe PI-MEN, den „Patriotes indépendants luxembourgeois“, organisiert Ernie Reitz die Inbetriebnahme eines Versteckes in einem stillgelegten Stollen der Eisenerzmine „Prince Henri“. Diese Erzgrube verbindet Esch mit Rümelingen und wird durch ihre Lage zum idealen Versteck für bis zu 25 politische Flüchtlinge, Deserteure und Refraktäre. Die Verpflegung der versteckten Personen wird vom Widerstand organisiert. Dabei wird die Wohnung von Ernie Reitz als Umschlagplatz genutzt.

Neben ihrer leitenden Rolle bei der Führung des „Bunker Eisekaul“ organisiert Reitz noch zusätzlich Lebensmittelpakete, die sie Häftlingen in den Konzentrationslagern zukommen lässt. Im Juni 1944 reist sie gemeinsam mit der Widerstandskämpferin Marie Brix nach Schlesien, um den Zwangsrekrutierten Theo Jacoby mit gefälschten Ausweispapieren zurück nach Esch zu bringen. Auch er wird im „Bunker Eisekaul“ versteckt.

Als im August 1944 Gerüchte aufkommen, dass das Versteck entdeckt und von der Gestapo gestürmt werden sollte, wird der Bunker evakuiert. Die darin versteckten Personen werden an anderen Orten in Esch untergebracht, darunter auch in Ernies Wohnung. Als die Gestapo den leeren Stollen vorfindet, verdächtigen sie die Familie Reitz der Mittäterschaft.

Ernie wird mit ihrer Mutter verhaftet und ins Frauengefängnis in Luxemburg-Grund gebracht. Aufgrund des Vorstoßes der amerikanischen Truppen verlassen Ende August/Anfang September 1944 die NS-Besatzer und ca. 10.000 Kollaborateure mit ihren Familien fluchtartig das Land. Während des Chaos wird Reitz von einem luxemburgischen Gefängniswärter freigelassen.

Nachkriegszeit und Anerkennung

Die traumatischen Erfahrungen des Krieges verlangen in der Nachkriegszeit eine rasche Rückkehr zur Normalität, um den Wiederaufbau des Landes voranzutreiben. Der Aufbau eines nationalen Geschichtsnarrativs soll die geteilte Gesellschaft wieder zusammenbringen: ein Volk vereint im Widerstand gegen die NS-Besatzer. Im patriarchalischen Gesellschaftsverständnis wird die Rolle der Frauen im Widerstand als bloße Hilfeleistungen dargestellt. Sie sollten wieder in die Rolle als Ehefrau und Mutter zurückgedrängt werden. Wie viele andere Widerstandskämpferinnen geraten auch die Leistungen von Ernie Reitz in Vergessenheit. Erst in den 1970er Jahren werden die umfangreichen Widerstandsaktivitäten der Frauen, als eigenständige Akteurinnen mit eigenem Handlungsspielraum, zögerlich aufgearbeitet.

Ernie Reitz bekommt erst 1971 die Auszeichnung „Médaille de l‘Ordre de la Résistance“ verliehen. Am 19. Mai 1994 wird die Escher Straße „Kleng Goardestrooss“ zu ihren Ehren in „rue Ernie Reitz“ umbenannt.