SchulwesenSoziale Herkunft als Faktor der Bildungsungleichheit

Schulwesen / Soziale Herkunft als Faktor der Bildungsungleichheit
Gleich, gleicher, am gleichsten – weder an der Europaschule, wie hier auf dem Foto, noch an anderen Schulen in Luxemburg Foto: Editpress-Archiv/Isabella Finzi

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Der soziale Aufstieg vieler Menschen scheitert nicht zuletzt aufgrund der ungleichen Bildungschancen. Vor allem in Luxemburg trifft dies mehr als in den meisten anderen Ländern Europas zu. Die Situation ist zwar nicht neu, hat sich aber eher verschlechtert.

Europa hat ein Ungleichheitsproblem. Zu diesem Schluss kam Tessa Bending aus der Abteilung Volkswirtschaftliche Analysen der Europäischen Investitionsbank (EIB) in ihrer vor drei Jahren veröffentlichten Studie über Ungleichheit. „Die Wissenschaft kann zwar Zusammenhänge zwischen Ungleichheit und Innovation, sozialer Mobilität und Wachstum darstellen“, erklärt die Ökonomin. „Sie kann aber nicht zeigen, ob die gegenwärtige Einkommensverteilung überhaupt unsere Bedürfnisse erfüllt und unser kollektives Glück fördert. Und immer weniger Menschen glauben, dass es so ist.“

Dass Luxemburg im Besonderen ein Ungleichheitsproblem hat, wurde in jüngster Zeit bestätigt. Tatsache ist, dass die Einkommensungleichheiten in Luxemburg zunehmen, wie eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Untersuchung der „Chambre des salariés“ (CSL) zeigte. Als Beispiel wird etwa das „Quintilsverhältnis“ genannt, das sich aus dem Vergleich des Einkommensanteils der ärmsten 20 Prozent mit dem der reichsten 20 Prozent ergibt. Langfristig ließe sich beobachten, dass sich nach jeder Verbesserung dieses Verhältnisses in den Folgejahren eine erhebliche Verschlechterung einstellte.

Der sogenannte Gini-Index, nach dem die Einkommensungleichheit weltweit ermittelt wird, bewegt sich für Luxemburg ungefähr im europäischen Mittelfeld. Im vergangenen Jahr hatte Luxemburg einen Gini-Koeffizienten, der die Abweichung des verfügbaren Einkommens aus Personen oder Haushalte innerhalb eines Landes von einer vollkommen gleichen Verteilung zeigt (ein Wert von 0 würde absolute Gleichheit, ein Wert von 100 die absolute Ungleichheit zeigen), von 30,6 Punkten, knapp über dem EU-Durchschnitt.

Ein Bericht des schweizerischen Tages-Anzeigers von Mitte August ließ kürzlich aufhorchen. Demnach stehen die Chancen bei den Eidgenossen für einen sozialen Aufstieg schlecht. Dies gelte sowohl für die Bildung als auch für die Einkommen. „Die Schweiz ist kein Land für Tellerwäscherkarrieren“, heißt es in dem Artikel. Die Schweiz stehe bei der Bildungsmobilität im Vergleich zum westeuropäischen Ausland im Mittelfeld. In Ländern wie Finnland oder Dänemark hätten Kinder aus bildungsfernen Haushalten deutlich bessere Chancen auf eine höhere Ausbildung. Dort schließen etwa doppelt so viele Kinder aus Akademikerfamilien eine akademische Ausbildung im Vergleich zu Kindern aus Nichtakademikerfamilien ab. In der Schweiz sind es 2,6 Mal so viel. Was erschreckend ist: In Luxemburg beträgt der Quotient 4,5. Der Ungleichheitsfaktor ist demnach hierzulande weit höher. In dem genannten Ranking liegt nur Italien mit einem Faktor 5,9 schlechter.

Bildung als Schlüsselfaktor

Dabei ist Bildung ein Schlüsselfaktor für den sozialen Aufstieg, wie Corinna Kleinert, Kathrin Leuze und Reinhard Pollak in ihrem Beitrag für die Informationen zur politischen Bildung der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung vom April 2023 betonen. „Doch die soziale Herkunft prägt den Zugang von Kindern zu Bildung entscheidend mit – und damit auch ihren zukünftigen sozioökonomischen Status“, konstatieren die drei Soziologen. Bildung sei das wichtigste Mittel, „um Armut, Arbeitslosigkeit und Benachteiligung zu entfliehen, gesund zu bleiben und ein langes und gutes Leben zu führen, sich zu informieren und sich aktiv am sozialen, kulturellen und politischen Leben zu beteiligen“.

Schulische Ungleichheit? 
Schulische Ungleichheit?  Foto: Editpress-Archiv/Alain Rischard

Bildung sei außerdem das „vielleicht wichtigste Versprechen in unserer Gesellschaft, allen Heranwachsenden die gleichen Chancen zu gewähren, um im Leben erfolgreich zu sein und damit bestehende soziale Ungleichheiten zu verringern“, betonen die Autoren. Die Realität sieht jedoch oft anders aus: „Häufig sind also Kinder aus benachteiligten Elternhäusern selbst gering gebildet und später ebenfalls benachteiligt und umgekehrt besuchen Kinder aus Akademikerfamilien häufig ebenfalls Hochschulen und nehmen später hohe berufliche Positionen ein.“ Es herrschen also ungleiche Startbedingungen. Auch der Trend zu immer höheren Abschlüssen – zumindest in Deutschland – habe daran nur wenig geändert. Die Zusammenhänge zwischen der sozialen Herkunft, der Bildung und der sozialen Position im Erwachsenenalter sind geblieben.

Bekanntlich nahm Luxemburg nicht wie bisher an der PISA-Vergleichsstudie 2022 unter OECD-Ländern teil. Was die Leistungsunterschiede in der Lesekompetenz zwischen sozioökonomisch begünstigten Jugendlichen und sozioökonomisch benachteiligten Jugendlichen angeht, schnitt Luxemburg 2018 von allen Ländern am schlechtesten ab. Der sogenannte Mittelwertunterschied zwischen dem oberen und dem unteren Viertel war mit 122 Punkten der höchste. Während er auch in Ländern wie Deutschland (113 Punkte), Belgien (109), Frankreich (107) und der Schweiz deutlich über dem OECD-Durchschnitt von 89 Prozent lag, war er in Ländern wie etwa Estland (61), Lettland (65) und Kanada (68) niedrig. Dabei waren die Leistungsunterschiede in der Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften gegenüber den vorangegangenen PISA-Studien unverändert hoch.

Dabei zeigte sich, dass nach Angaben des „Service de coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et technologiques“ (Script) und des Luxembourg Centre for Educational Testing (Lucet) Jugendliche mit Migrationshintergrund durchschnittlich niedrigere Leistungen aufwiesen als Jugendliche ohne Migrationshintergrund, obwohl sie eine sehr heterogene Gruppe bilden, was ihre sozioökonomische Lage und sprachlichen Voraussetzungen betrifft. Und auch wenn sich ihre mittleren Leistungen seit von PISA 2006 bis 2015 verbessert hatten.

Entlang der verschiedenen Achsen wie soziale Herkunft, Migrationshintergrund und Geschlechtszugehörigkeit untersuchte der Luxemburger Bildungsbericht 2018 die Ungleichheiten hierzulande. Darin wiesen Andreas Hadja, Antoine Fischbach und Susanne Backes darauf hin, dass das hiesige Bildungssystem nicht zuletzt durch die Mehrgliedrigkeit des Sekundarbereichs dafür besonders anfällig sei und die Benachteiligung im Schulsystem weitreichende Folgen für den Lebensverlauf haben könne: zum Beispiel in puncto Chancen auf dem Arbeitsmarkt, Höhe des Einkommens und Lebenserwartung.

Ursachen der Ungleichheit

Mögliche Ursachen von Bildungsungleichheit könnten individuell als auch institutionell sein, etwa wenn es an Ressourcen mangele. Dies könne sich etwa im Zuge von Bildungsreformen ändern, so die Autoren. Über das Ausmaß der Ungleichheit entscheide häufig die sogenannte Stratifizierung, also die Mehrgliedrigkeit des Bildungssystems. Ob ein Wechsel zwischen den unterschiedlichen Bildungswegen möglich sei, hänge davon ab, „inwiefern Mobilität zwischen verschiedenen Schulformen intendiert und damit erleichtert wird“.

Die Bildungschancen sollten möglichst gerecht sein
Die Bildungschancen sollten möglichst gerecht sein Foto: Editpress-Archiv/Alain Rischard

Das eine Extrem bilden zum Beispiel gesamtschulartige Systeme, die kaum stratifiziert sind, das andere sind hoch stratifizierte, in denen Schüler nach dem Ende der Primärschule auf verschiedene Bildungswege, deren Ablauf festgelegt ist, aufgeteilt werden – ein Wechsel zwischen diesen Systemen ist demnach kaum noch möglich. Luxemburg gehöre, so die Autoren, zu den eher stratifizierten Systemen, in denen die Bildungsungleichheiten stärker ausgeprägt sind. Die verschiedenen Systeme bereiten demnach auf unterschiedliche Abschlüsse vor, Klassen sind nach Leistungsniveaus zusammengesetzt. So lernen etwa Kinder aus bildungsfernen Schichten nur noch mit anderen bildungsfernen Kindern in Klassen zum Beispiel im „Régime préparatoire“ und haben keine Gelegenheit, durch leistungsfähigere Kinder motiviert oder unterstützt zu werden.

Eine frühe Aufteilung der Schüler führe zu Bildungsungleichheiten, weil ungleiche Startvoraussetzungen aufgrund herkunftsspezifischer Merkmale noch nicht ausgeglichen werden konnten und bis dahin bei vielen die kognitive Leistungsfähigkeit noch nicht genau eingeschätzt werden könne. Ebenso kann eine zu homogene Schülerschaft zu einer Abnahme der Bildungschancen für benachteiligte Schüler führen: Wenn zum Beispiel nur Schüler aus Arbeiter- und Migrantenfamilien oder nur noch Kinder aus bildungsfernen Familien verbleiben, verringerten sich die Bildungschancen – das Lehrpersonal senke dann leicht, mit Blick auf das niedrige Kompetenzniveau, seine Erwartungen und passe seinen Unterricht in dieser Hinsicht an.

Dem sind bereits die beiden deutschen Soziologinnen Heike Solga und Sandra Wagner in ihrem Beitrag „Die Zurückgelassenen“ über die soziale Verarmung der Lernumwelt von Hauptschülern in dem vor 20 Jahren erschienenen Band „Bildung als Privileg? Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit“ nachgegangen. Sie gingen unter anderem der Frage nach, wie sich die Bedingungen für Schüler während der sogenannten Bildungsexpansion, der enormen Ausdehnung des Bildungswesens in den vergangenen Jahrzehnten, verändert hart. Am deutschen Beispiel zeigten Solga und Wagner, wie sich die Bedingungen auf die Schultypen mit niedrigerem Leistungsniveau verschlechtert haben, je sozial stärker homogen und zugleich sozial benachteiligter die Schülerschaft war. Die soziale Distanz zwischen den einzelnen Schultypen sei dabei größer geworden.

Sehnsucht nach Homogenität

Die ethnisch und soziale Segregation geht zu Lasten der Schüler mit Migrationshintergrund. Kinder aus Schulen in benachteiligten sozialen Lagen werden oftmals stigmatisiert. Dagegen würden integrative Schulformen mit individueller Förderung in den Schulklassen die Bildungschancen dieser Kinder erhöhen. Dass die soziale Auslese der Schüler verstärkt zu einem schulischen Scheitern der benachteiligten Kinder führe, kritisierte bereits der deutsche Erziehungswissenschaftler Klaus-Jürgen Tillmann. Er spricht von einer „Homogenitäts-Sehnsucht“ bei gleichzeitigem „Selektionsdruck“. Wie Hadja, Fischbach und Backes zeigen, könne, wenn der Anteil von benachteiligten Kindern in der Schulklasse nicht überwiege, die Mischung dazu führen, dass sich leistungsschwächere Schüler verbessern, sich aber die Leistungsstarken nicht verschlechtern.

Zwar habe das Bildungsniveau der in Luxemburg geborenen Bevölkerung allgemein zugenommen, doch sind die Chancen, auf ein klassisches Lyzeum orientiert zu werden, bei sozioökonomisch benachteiligten Schülern leicht gesunken. Das Absinken der Chancen von Benachteiligten und das Zunehmen der Chancen von Privilegierten bedeute, so die Autoren, eine Zunahme der sozialen Ungleichheiten im Bildungsbereich. Betrachte man die Orientierung von Jugendlichen getrennt nach sprachlichen Hintergründen, zeige sich ebenfalls eine Bildungsungleichheit – zum Nachteil der Schüler mit Migrationshintergrund.

Alle gleich? Manche sind gleicher.
Alle gleich? Manche sind gleicher. Foto: Editpress-Archiv/Alain Rischard

Dass auch in anderen Ländern die soziale Herkunft mehr noch als Migrationshintergrund ein wichtiger Einflussfaktor auf die Bildungschancen von Schülern bleibt, ist kein Trost. Etwa in Deutschland zeigte im vergangenen Jahr der „Ein Herz für Kinder“-Chancenmonitor des ifo-Zentrums für Bildungsökonomik: „Je nach dem familiären Hintergrund der Eltern beträgt die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, zwischen einem Fünftel und vier Fünfteln“, teilte das Zentrum bei der Vorstellung des Berichts mit. „Die entscheidenden Faktoren für die Bildungschancen sind Bildung und Einkommen der Eltern“, sagte dessen Leiter Ludger Wößmann.

So liege zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, bei einem Kind mit einem alleinerziehenden Elternteil ohne Abitur aus dem untersten Einkommensviertel und mit Migrationshintergrund bei 21,5 Prozent. Im Gegensatz dazu belaufe sie sich auf 80,3 Prozent, wenn das Kind mit zwei Elternteilen mit Abitur aus dem obersten Einkommensviertel und ohne Migrationshintergrund aufwächst. Allerdings sei das große Ausmaß der Ungleichheit der Bildungschancen „nicht unumstößlich“, betont Wößmann. Er nennt als Lösungsansatz etwa politische Maßnahmen zur gezielten Förderung von Kindern aus benachteiligten Verhältnissen, aber auch der Besuch frühkindlicher Bildungseinrichtungen.

Oft zählt auch an den Schulen der Wettbewerb mehr als die Chancengleichheit
Oft zählt auch an den Schulen der Wettbewerb mehr als die Chancengleichheit Foto: Editpress-Archiv/Isabella Finzi