EditorialSprache, Emotionen, Themen: Die Mitte-Parteien kriegen es nicht gebacken

Editorial / Sprache, Emotionen, Themen: Die Mitte-Parteien kriegen es nicht gebacken
Franzosen protestieren gegen RN-Spitzenkandidat Bardella: Der Erfolg der Rechten liegt unter anderem daran, dass die Mitte-Parteien die Leute auch sprachlich nicht mehr erreichen Foto: AFP

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In diversen luxemburgischen WhatsApp-Gruppen zirkuliert derzeit ein Video-Ausschnitt aus dem Escher Gemeinderat von vergangenem Freitag. Vielleicht haben auch Sie diese knappe Minute gesehen und vielleicht haben auch Sie darüber gelacht. Zu sehen ist die Piraten-Gemeinderätin Tammy Broers, die sich in der Tat schwertut mit ihrer Wortmeldung zu der Affäre um den wegen schweren Steuerbetrugs verurteilten DP-Schöffen Pim Knaff. 

Broers sagte im April gegenüber dem Land, zu Beginn ihrer lokalpolitischen Karriere sehr aufgeregt gewesen zu sein. Broers stammt nicht aus bürgerlichen Kreisen und hat keine Universität besucht. Allein das macht sie zur Exotin unter Luxemburgs Politikerinnen und Politikern. Weder mit den Prozeduren noch mit den Gepflogenheiten eines Gemeinderates war sie vertraut. Mit dem Reden bei den Sitzungen tut sie sich nach wie vor schwer. Das auf WhatsApp herumgereichte Video, in dem Broers zum Spottobjekt degradiert wird, unterstreicht das. Am Ende bleibt es ein billiger Lacher auf Kosten einer sozial schwächer gestellten Person.

Dabei war in dieser Gemeinderatssitzung ein anderer Redebeitrag viel bedenklicher. Nicht wegen der Form, aber wegen der Aussage. Rätin* Daliah Scholl von der sehr bürgerlichen DP las ihren Beitrag, in dem sie Knaff verteidigte, zwar sauber ab. Doch die politische Botschaft war besorgniserregend. Scholl warf der Opposition vor, zu lügen und verglich deren Kritik an Knaff mit „mittelalterlicher Lynchjustiz“. Scholls Redebeitrag verwandelte niemand in einen WhatsApp-Lacher für die Freundes- und Familiengruppen. Aber er war problematischer als jener der Piratin. Die trug ihre Sätze zwar schlecht vor – die Worte der DP-Politikerin gingen jedoch an den Leuten vorbei. Und das ist, parteien- und länderübergreifend, längst eher die Regel als die Ausnahme.

Eine Folge ist Politikverdrossenheit und die Abwendung von den etablierten Parteien. Die extreme Rechte, in all ihren Schattierungen, hat sich auch deswegen den Kampf gegen die Eliten spätestens seit Donald Trumps Aufstieg auf die Fahne geschrieben.

Das ist Jahre her, doch auch im Jahr 2024 haben die Mitte-Parteien keine richtige Antwort darauf gefunden. Das zeigt sich zurzeit in Frankreich, wo der Rassemblement National davorsteht, die Legislativwahlen zu gewinnen. Auch, weil der RN offenbar als einzige Partei viele Menschen noch erreichen kann.

Dabei sind die Fragen, die sich die Politik stellen muss, nicht neu. Wer fängt diese Menschen auf, bietet ihnen eine Perspektive oder zumindest eine glaubhafte Aussicht nicht nur auf eine Veränderung, sondern auf eine Verbesserung ihrer Lebensumstände? Und viel wichtiger noch: Wer glaubt überhaupt noch daran und will auch erreichen, dass es diesen Menschen morgen besser geht als heute? Oder sind sie der lange siegessicheren politischen Mitte vielleicht mit den Jahren egal geworden? Deren Parteien haben sich einander programmatisch immer mehr angenähert und ihren mutlosen Mitte-Kurs mit leichten Abweichungen stur beibehalten.

Inzwischen wird die Beibehaltung des Status quo von etablierten Parteien schon als Utopie vermarktet. Das einzig verbliebene Versprechen scheint jenes zu sein, dass es nicht noch schlimmer kommt. Doch die jüngsten Wahlergebnisse der EU-Wahl sowie die Perspektiven für die Frankreich-Wahl zeigen, dass das längst nicht mehr reicht. Die meisten Mitte-Parteien, und das gilt bei weitem nicht nur für Frankreich, finden weder die richtige Sprache, noch schaffen sie es, die Emotionen der Menschen zu wecken oder die richtigen Themen zu betonen. Den Rechten machen sie es damit viel zu leicht.

* In einer früheren Version wurde Daliah Scholl fälschlicherweise als Schöffin bezeichnet. Scholl ist aber Gemeinderätin.

porcedda daniel m
28. Juni 2024 - 13.21

Politische Rhetorik ist ein Vabanquespiel der Demokratie. Auf der einen Seite sollten, nein, müssten Politiker deutlich artikulieren, also Klartext reden, was der Wichtigkeit jedes politischen Amtes geschuldet wäre. Auf der anderen Seite jedoch werden rhetorische Stilmittel für unlautere Interessen gebraucht, eher missbraucht. Sei es, um einen politischen „Gegner“ öffentlich zu diskreditieren; sei es, um die Öffentlichkeit im eigenen parteipolitischen Interesse zu emotionalisieren und damit zu manipulieren; sei es, um schlicht als begnadeter Rhetoriker beeindrucken zu wollen, unabhängig des eigentlichen „Wertes“ des Gesagten. Bei der letzteren Gattung kommt einem unweigerlich ein Bonmot von Heinz Erhardt in den Sinn: „Manche Menschen wollen glänzen, obwohl sie keinen Schimmer haben.” Von der Sorte äußern sich viel zu viele öffentlich vor Mikrofonen und Kameras. Jeder will zu jedem Thema einen schlauen Kommentar abgeben. Dass jedoch nicht jeder zu allem und alles einen hohen Informations- und Kenntnisstand haben kann, liegt auf der Hand. Politiker wären daher gut beraten, sich nicht zu Themen zu äußern, von denen sie kaum mehr Ahnung haben als der regemäßig Nachrichten konsumierende Normalbürger. – Schwerwiegender jedoch ist: Politiker trauen sich nicht, ihren Bürgern die „ganze Wahrheit“ zu sagen, also, welche dringenden Kursänderungen vorgenommen werden müssten, um gewisse negative Entwicklungen zu konterkarieren. Und so kommt es, dass „echte“ Problemlösungen kaum in Sicht sind, sei es in der Klimafrage, bei der Rentenreform, zur Wohnsituation … um bloß einige wichtige Aspekte zu nennen. Die meisten Bürger wissen, oder fühlen es zumindest, dass teils „radikale“ Änderungen unabdinglich sind. Und dennoch eiern Politiker jeder Couleur rum und verlieren sich in rhetorischen nichtssagenden Floskeln, um keine Wähler zu verlieren. Dieses unehrliche Spiel führt die Demokratie ad absurdum. Und droht, folgende Generationen zum Kollabieren zu bringen.