DeutschlandTaktischer Showdown bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen

Deutschland / Taktischer Showdown bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen
Björn Höcke (AfD, ausnahmsweise links) und Mario Voigt (CDU), Spitzenkandidaten der Landtagswahl in Thüringen, beim TV-Duell im April Foto: dpa/Michael Kappeler

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Die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) hat gute Chancen, bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen stärkste Partei zu werden. Wie konnte es – und vor allem in den ostdeutschen Bundesländern – so weit kommen? Die Erklärung ist nicht nur in den vergangenen 35 Jahren seit dem Fall der Berliner Mauer zu finden.

„Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ Die ersten beiden Verse von Heinrich Heines vor 180 Jahren erschienenen Gedicht „Nachtgedanken“ besitzen knapp acht Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur eine bedrohliche Aktualität. Denn zum ersten Mal kann eine rechtsextreme Partei zumindest auf regionaler Ebene die stärkste politische Gruppierung werden.

Es ist eine knifflige Situation in Sachsen wie in Thüringen: Während die CDU, die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) laut Umfragen stark sind, drohen die Parteien der Berliner Ampelkoalition aus den Landtagen zu fallen. Auf ein eher taktisches Wahlverhalten wie etwa das Orientierungsportal taktisch-waehlen.de setzt nicht nur Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). Seine Partei liegt laut Umfragen bei etwa 30 Prozent. Bei den vergangenen Wahlen 2019 war sie von knapp 40 auf 32,1 Prozent abgestürzt. Trotzdem ist zurzeit jeder zweite Sachse mit der Amtsführung des Regierungschefs zufrieden.

In dem Freistaat taktisch zu wählen bedeutet etwa zu ermöglichen, dass die SPD und Grünen wieder in den Landtag einziehen. Sie liegen momentan bei sechs respektive fünf Prozent. Die Grünen können ihr starkes Ergebnis von 8,6 Prozent im Jahr 2019 wohl kaum wiederholen. Wenn sie den Wiedereinzug schaffen, könnten CDU, SPD und Grüne die „Kenia“-Koalition fortsetzen. Die Linke liegt bei vier Prozent. Kretschmer schielt auch auf das BSW, derzeit bei 15 Prozent. Die erst im Januar 2024 gegründete Partei könnte damit den direkten Sprung in die Regierung schaffen. Der Regierungschef weiß, dass dies nicht ohne ein Ende der Ukraine-Waffenlieferungen und einen Volksentscheid über die Stationierung von US-Raketen gehe.

Wir wollen kein Stück vom Kuchen. Wir wollen die Bäckerei. Wir wollen regieren.

Jörg Urban, AfD Sachsen

Die AfD, vom Verfassungsschutz sowohl in Sachsen als auch in Thüringen als gesichert rechtsextrem eingestuft, gibt sich mit Umfragewerten um 32 Prozent selbstbewusst. Landeschef Jörg Urban will die CDU in die Opposition schicken: „Wir wollen kein Stück vom Kuchen. Wir wollen die Bäckerei. Wir wollen regieren“, rief der 59-Jährige bei einer Wahlkampfveranstaltung in Dresden. Bei der Landtagswahl vor fünf Jahren landete die AfD noch bei 27,5 Prozent, bei der Europawahl kam die sächsische AfD auf 31,8 Prozent.

Bodo Ramelows Aussichten, in das Amt als Ministerpräsident Thüringens wiedergewählt zu werden, sind in weite Ferne gerückt
Bodo Ramelows Aussichten, in das Amt als Ministerpräsident Thüringens wiedergewählt zu werden, sind in weite Ferne gerückt Foto: AFP/Jens Schlueter

Noch schwieriger ist die Lage in Thüringen. Bereits bei der Europawahl am 9. Juni wurde die AfD mit 30,7 Prozent der Wählerstimmen dort stärkste Partei. Nach Meinungsumfragen kann die Partei, angeführt von Björn Höcke, am Sonntag auf fast ein Drittel der Sitze im Landtag hoffen. Die CDU liegt bei 21 bis 22 Prozent. Dem BSW werden 20 Prozent der Zweitstimmen vorhergesagt. Dagegen droht die Linke von Ministerpräsident Bodo Ramelow massiv Stimmen zu verlieren. Sie kommt in den Umfragen auf 14 Prozent (bei der letzten Landtagswahl im Oktober 2019 kam sie auf 31 Prozent). Derweil dürfte die SPD mit sechs bis sieben Prozent die Fünf-Prozent-Hürde nur knapp überwinden, während die Grünen (drei bis vier Prozent) scheitern könnten. Die FDP landet voraussichtlich unter ferner liefen. Wichtige Themen im Wahlkampf waren nach der Asyl- und Migrationspolitik unter anderem die Bildungspolitik und Fragen der öffentlichen Infrastruktur.

„Dammbruch von Erfurt“

Der Freistaat Thüringen, in dem rund 2,1 Millionen Menschen leben, wird immer wieder als ein Seismograf für politische Entwicklungen bezeichnet. Die seit 2014 bestehende Regierungskoalition aus Linke, SPD und Grünen hat seit 2019 keine parlamentarische Mehrheit mehr und bildet eine Minderheitsregierung. Dass sie überhaupt entstanden ist, hatte der „Dammbruch von Erfurt“ im Februar 2020 möglich gemacht. Damals wurde der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit den Stimmen seiner Partei sowie mit denen der CDU und der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt. Er musste aufgrund massiven Drucks zurücktreten, Ramelow wurde erneut gewählt – seine Partei war jedoch bei Abstimmungen auf die Opposition angewiesen. Auch wenn die CDU und ihr bundesweiter Parteichef Friedrich Merz über eine Brandmauer gegen die AfD reden: Die Thüringer CDU unter ihrem Partei- und Fraktionsvorsitzenden Mario Voigt hat gemeinsam mit FDP und AfD etwa die Grunderwerbssteuer von 6,5 auf fünf Prozent gesenkt.

Wer auf Ursachenforschung für die momentane Situation in den beiden Freistaaten im Süden der ehemaligen DDR geht, beginnt am besten mit dem Ende des kommunistischen SED-Regimes. Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 hatte einen Wegzug von mehr als 3,5 Millionen Menschen aus Ost- nach Westdeutschland in den darauffolgenden 25 Jahren zur Folge. Schon in den elf Monaten zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung waren es mehrere Hunderttausende, die dem Osten den Rücken kehrten, obwohl der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) beim Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafs- und Sozialunion am 1. Juli 1990 versprach, die neuen Bundesländer würden sich in „blühende Landschaften“ verwandeln.

Michael Kretschmer, hier mit Anhängern, setzt auf Taktik. Jeder zweite Sachse ist mit der Amtsführung des Regierungschefs zufrieden. 
Michael Kretschmer, hier mit Anhängern, setzt auf Taktik. Jeder zweite Sachse ist mit der Amtsführung des Regierungschefs zufrieden.  Foto: AFP/Jens Schlueter

Am 3. Oktober 1990, dem Tag der Deutschen Einheit, wurde das Ende der Teilung Deutschlands vollzogen. Auf den Straßen Berlins feierten die Menschen mit Sekt und Fahnen. Doch die „blühenden Landschaften“ ließen auf sich warten. Nach einer Untersuchung des Emnid-Instituts herrschte unter den Ostdeutschen kurz nach der Wende eine depressive Stimmung, wie sie „noch nie und nirgends zuvor“ gemessen worden sei. Mehr als ein Drittel der erwachsenen Einwohner äußerte das Gefühl, „in dieser Gesellschaft nicht mehr gebracht zu werden“. Armut und Resignation hatten sich ausgebreitet.

Abwanderung und „Baseballschlägerjahre“

Vor allem gut ausgebildete junge Leute zog es in den Westen. Allgemein war zu beobachten, dass die Einwohnerzahl in fast allen Landkreisen und kreisfreien Städten schwand. Erst 2017 war die Abwanderung gestoppt. Vom Bevölkerungsschwund mit am stärksten betroffen war die thüringische Stadt Suhl, wo die Einwohnerschaft um ein Drittel zurückging. Insgesamt wanderte in den 25 Jahren nach der Wiedervereinigung etwa ein Viertel der Ostdeutschen zwischen 18 und 30 Jahren ab. Zudem sanken die Geburtenraten deutlich.

Zu Beginn der 90er Jahre standen Städte wie Hoyerswerda und Rostock für eine Welle der von einer rechtsextremen Jugendkultur getragenen Gewalt gegen Migranten sowie gegen alle vermeintlich „Anderen“ wie etwa Punks, Homosexuelle und Obdachlose. Diese Zeit wird heute als „Baseballschlägerjahre“ bezeichnet. Doch auch unter Jugendlichen im Westen war es damals zu einem verstärkten Rechtstrend und zu einer Eskalation rassistischer Gewalt gekommen. Besonders schwere Gewalttaten waren die Brandanschläge von Mölln (Schleswig-Holstein) im November 1992 und Solingen (Nordrhein-Westfalen) im Mai 1993, bei denen drei beziehungsweise fünf Menschen türkischer Herkunft ums Leben kamen. Nach der These der Wuppertaler Historikerin Franka Maubach lassen sich die 80er Jahre im Westen als Pendant zu den „Baseballschlägerjahren“ im Osten bezeichnen: Damals sei eine zunehmende „Türkenfeindlichkeit“ entstanden. Zwar sind rechtsextreme Milieus in beiden Teilen Deutschlands seit 1990 gewachsen, im Osten hat dies jedoch zu einer „rechten Hegemonie“ in der Gesellschaft und im kulturellen Bereich geführt.

Allmählich ist die rechtsradikale Skinhead-Szene ab dem Anfang der 2000er Jahre in den Hintergrund getreten. Es schien so, als seien die „Baseballschlägerjahre“ nur ein düsteres Kapitel in der deutschen Geschichte gewesen. Doch in dieser Zeit entwickelte sich nicht zuletzt die Gruppe des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), die in den 2000er Jahren bundesweit eine rassistische Blutspur legten. Die Jenaer Neonazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos sowie ihre Gefährtin Beate Zschäpe zogen jahrelang mordend durchs Land. Die rechtsextreme Terrorgruppe tötete zehn Menschen, acht Männer mit türkischen und einen mit griechischen Wurzeln sowie eine Frau, legten Bomben und überfielen Banken.

Sahra Wagenknecht will mit ihrem Bündnis gleich durchstarten. Hier bei einem Wahlkampfauftritt in Erfurt am Donnerstag, 29. August, bei dem sie ein Mann mit roter Farbe attackiert hat. 
Sahra Wagenknecht will mit ihrem Bündnis gleich durchstarten. Hier bei einem Wahlkampfauftritt in Erfurt am Donnerstag, 29. August, bei dem sie ein Mann mit roter Farbe attackiert hat.  Foto: AFP/Ronny Hartmann

Während es ab Mitte der 2010er Jahre zu ausländer- und islamfeindlichen Protesten kam, unter anderem zu den sogenannten Pegida-Demonstrationen, brannten Flüchtlingsheime und alternative Jugendzentren. Die sozialen Netzwerke wirkten für diese als Hassverstärker. Die neuen rechtsextremen Generationen tragen nicht mehr unbedingt ihre Glatzen und Bomberjacken zur Schau, aber hören Rechtsrock und posten rassistische Slogans. Die rechte Szene in Deutschland hat sich ausdifferenziert. Neue Gruppen kamen hinzu, etwa die Identitären oder die Reichsbürger. Was die ostdeutsche Bevölkerung betrifft, ergab eine 2023 erschienene Studie des Leipziger Else-Frenkel-Brunswik-Instituts (EFBI) der Universität Leipzig, dass bei ungefähr jeder fünften befragten Person rechtsextreme Einstellungsmuster vorlagen. Viele wünschten sich einen autoritären Staat.

Eine Zeit lang war die 1964 in Westdeutschland gegründete Nationaldemokratische Partei (NPD), im vergangenen Jahr umbenannt in „Die Heimat“, die stärkste Partei am rechten Rand des politischen Spektrums. Ihr gelang es im September 2004 in Sachsen, mit 9,2 Prozent der Wählerstimmen in ein Landesparlament einzuziehen. In einigen Regionen, vor allem in der Sächsischen Schweiz, erreichte sie sogar bis zu 20 Prozent der Stimmen. Unter 18- bis 24-Jährigen war ihr Anteil überproportional. Bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern 2006 kam sie auf 7,3 Prozent. Längst hat ihr die AfD den Rang abgelaufen. Für Letztere zahlt sich speziell in Ostdeutschland heute aus, dass sie seit 2016, dem Jahr ihres erstmaligen Einzugs in den Landtag von Sachsen-Anhalt, kontinuierlich politisch Präsenz auf der Straße zeigt und dort ganz gezielt Ressentiments in der Bevölkerung bedient. Die AfD erzielt ihre Mobilisierungserfolge bei bisherigen Nichtwählern mit gezielter Anti-Establishment-Rhetorik, die jeweils thematisch an die diskursiven Gegebenheiten angepasst werden kann.

„Freiheitsschock“ statt Wohlstand

Nach den Worten von Ilko-Sascha Kowalczuk sind die Ostdeutschen vom  „Hass auf die westlichen Werte und die Anmaßungen der Freiheit, selbst für sein Leben verantwortlich zu sein“, geprägt. Ostdeutschland habe 1989/90 einen „Freiheitsschock“ erlitten, schreibt der Historiker und Publizist in seinem gleichnamigen Buch. Die AfD ist zwar ein gesamtdeutsches Phänomen, so wie auch in ganz Europa rechtspopulistische bis rechtsextreme Parteien erfolgreich waren, in Ostdeutschland ist sie jedoch besonders erfolgreich. Einerseits war der Westen in der DDR ein Sehnsuchtsort, zugleich wirkte die antiwestliche Propaganda der SED lange nach und wurde durch die Frustrationen des Vereinigungsprozesses verstärkt. Heute sehnten sich viele zurück ins warme Nest, weiß Kowalczuk. Die meisten Ostdeutschen fühlten sich bis heute vom Westen nicht anerkannt und unterlegen – nun rebellieren sie mithilfe der AfD, meint der aus Ost-Berlin stammende Autor, Jahrgang 1967.

Kowalczuk sieht nicht nur „die Errungenschaften und das Erbe der Freiheitsrevolution von 1989 bedroht, sondern ich sehe insgesamt Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland und Europa bedroht“. Sowohl AfD als auch BSW seien sich in ihrer Diskreditierung und Ablehnung der liberalen, repräsentativen Demokratie einig. Beiden ginge es darum, ein autoritäres Regime zu etablieren. Es sei ein Irrglaube, dass die Ostdeutschen 1989/90 mehrheitlich für Freiheit und Demokratie auf die Straße gegangen seien. Den meisten sei es um Wohlstand gegangen, wobei sie sich ein völlig idealisiertes Bild vom „goldenen“ Westen gemacht hätten. „Aus dieser Selbsttäuschung entstand dann eine große Enttäuschung, die in Wut und Ablehnung umschlug“, erklärt Kowalczuk. Diese gingen einher mit einer Opferrolle, in der sich viele Ostdeutsche eingerichtet hätten.

Doch wie bereits erwähnt, ist die radikale Rechte kein alleiniges ostdeutsches Problem, sondern ein europäisches. Die AfD, 2013 im hessischen Oberursel als europaskeptische, wirtschafts- und nationalliberale Partei gegründet, hat sich gewandelt und radikalisiert. Es darf nicht vergessen werden, dass sie auch in den westdeutschen Bundesländern bei Landtagswahlen bereits zehn Prozent überschritten hat, etwa in Bayern mit 14,6 Prozent (2023), in Hessen mit 18,4 Prozent (2023) und in Niedersachsen mit 10,9 Prozent (2022), in Baden-Württemberg bereits 2016 mit 15,1 Prozent (bevor sie 2021 auf 9,7 Prozent zurückfiel). Mittlerweile ist sie in allen Landesparlamenten außer Bremen und Schleswig-Holstein vertreten und liegt in Umfragen bundesweit zurzeit auf etwa 17 Prozent. Sie ist damit zweitstärkste Partei. 

Jörg Urban, Vorsitzender der AfD in Sachsen, will wohl den „Machtwechsel“
Jörg Urban, Vorsitzender der AfD in Sachsen, will wohl den „Machtwechsel“ Foto: Robert Michael/dpa

Vom roten Thüringen zu Hitlers „Mustergau“

Bereits vor hundert Jahren gab es in Thüringen eine „Schicksalswahl“: Damals, im Februar 1924, wurden Rechtsextreme erstmals zu Mehrheitsbeschaffern. Bei der Landtagswahl im Freistaat Thüringen holte der bürgerlich-konservative Thüringer Ordnungsbund 48 Prozent vor SPD (23 Prozent) und KPD (18 Prozent). Zünglein an der Waage war, etwa ein Vierteljahr nach dem Hitler-Putsch vom November 1923, die Vereinigte Völkische Liste mit neun Prozent. Dahinter verbargen sich drei Kandidaten der zu jener Zeit verbotenen NSDAP. Antisemitismus und Rassismus machten sich verstärkt breit. Der Historiker Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, spricht von einem Zivilisationsbruch, der den Nazis den Aufstieg ebnete. Das Verbot der NSDAP wurde aufgehoben. Thüringen wurde zum Rückzugsraum und „Sprungbrett der Nazis“, so Wagner. Der erste reichsweite Parteitag der NSDAP fand 1926 in Weimar statt.
Adolf Hitler betrachtete Thüringen als „Mustergau“. Jedenfalls war es ein Machtlabor der Nazis. Aus diesen Erfahrungen müsse man Lehren ziehen, so Wagner. „Wenn eine Partei erwiesenermaßen antidemokratische Ziele vertritt, wenn eine Partei erwiesenermaßen antidemokratisch daran arbeitet, die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland umzustürzen, dann muss eine Demokratie wehrhaft sein und eine solche Partei verbieten. Insofern spricht aus meiner Perspektive mit Blick auf die AfD sehr viel dafür, tatsächlich diese Partei zu verbieten, (…) wenn man sich die Schriften und Äußerungen zum Beispiel von Björn Höcke hier in Thüringen ansieht.“
Über das historische Beispiel schreibt der aus Thüringen stammende Stern-Journalist Martin Debes in seinem dieses Jahr erschienenen Buch „Deutschland der Extreme. Wie Thüringen die Demokratie herausfordert“. Dabei war die erste deutsche Republik ausgerechnet in Weimar konstituiert worden. Aufgrund der instabilen Lage in Berlin nach dem Ersten Weltkrieg hatte die Nationalversammlung ab Februar 1919 dort in einem Nebengebäude des Theaters, vor dem noch heute auf steinernem Podest Goethe und Schiller stehen, getagt. Der SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert sprach von dem „Geist von Weimar“. Nach vier Monaten Beratung verabschiedete das Parlament die erste demokratische Verfassung Deutschlands. Im Juni 1920 gewann die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) die Landtagswahl. Die Regierungsbildung misslang, sodass es erst im November 1920 zu einer Minderheitsregierung von SPD, der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) unter Tolerierung der USPD kam. Doch die Regierung hielt nur ein Jahr. Es folgte eine Minderheitsregierung der SPD unter Tolerierung der Kommunisten und schließlich, wie in Sachsen, eine gemeinsame Regierung von SPD und KPD. Wie Debes schreibt, sei daraus die Legende vom „roten Thüringen“ entstanden.
Mit der Parole „Links abwählen“ bildeten DVP, DDP und der Reichslandbund den Thüringer Ordnungsbund. Das Bündnis gewann die Landtagswahlen im Februar 1924 knapp. Zur absoluten Mehrheit fehlten zwei Stimmen. Der Ordnungsbund schloss einen Pakt mit der Vereinigten völkischen Liste, die als Tarnorganisation der nach dem gescheiterten Hitler-Putsch verbotenen NSDAP fungierte, angeführt von dem Antisemiten Artur Dinter, der den Mitgliedern der Reichsregierung mit dem Galgen drohte. Nach den rechtsterroristischen Morden an Matthias Erzberger und Walther Rathenau sowie dem Attentat auf den Reichsministerpräsidenten Philipp Scheidemann war dies ein weiterer Aufruf zur Gewalt.
Hitler überlegte sogar, die Parteizentrale von München nach Thüringen zu verlegen. Im Juli 1932 gewann die NSDAP die Thüringer Landtagswahl mit 42,5 Prozent. „Weimar ist der Vorbote dessen, was bald darauf in Berlin geschieht“, schreibt Martin Debes. Der Autor spricht vom „Janusgesicht Weimars“. Am Ort der deutschen Klassik entstand nach der Machtergreifung der Nazis 1933 das Konzentrationslager Buchenwald. Während Großbetriebe wie Carl Zeiss Jena später auf Kriegsproduktion umstellten, lieferte die Erfurter Fabrik „Topf & Söhne“ die Öfen für die Vernichtungslager. Gauleiter Fritz Sauckel wurde Generalbeauftragter für fünf Millionen Zwangsarbeiter und nach den Worten der Hauptankläger des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses „der größte und grausamste Sklavenhalter seit den ägyptischen Pharaonen“. Sauckel starb im Oktober 1946 am Galgen.
Mit dem Vertrag von Jalta wurde im Februar 1945 entschieden, dass Thüringen zur sowjetischen Besatzungszone gehörte. Der Exodus begann mit der Abwanderung von Carl-Zeiss-Personal und -Material nach Westen. Bis 1961 flohen etwa drei Millionen Menschen. Das SED-Regime investierte massiv in die Wirtschaft und den Wohnungsbau von Erfurt, Gera und Suhl, in den Peripherien entstanden Plattenbausiedlungen. Die Zahl der Einwohner in den Städten explodierte. „In den Jahren von Indoktrination und Isolation entsteht eine Art kollektives ostdeutsches Selbstbewusstsein“, schreibt Debes. „Es changiert zwischen Autoritätsgläubigkeit und Widerstand, Stolz und Selbstzweifeln, Weltoffenheit und Xenophobie.“ Für die einen sind viele Ostdeutsche „diktatursozialisiert“ und „chronisch seelenkrank“. Andere stilisierten die einstigen DDR-Bürger zu Opfern der „neokolonialen“ Wiedervereinigung. In Wahlgrafiken zur Europawahl 2024 ist der Osten Deutschlands von der AfD (blau) dominiert – mit über 37 Prozent in manchen Regionen Thüringens und bis zu 40,1 Prozent in Sachsen (Görlitz).  

Grober J-P.
30. August 2024 - 11.37

„Freiheitsschock“ statt Wohlstand.
Und manche wurden und wollen wieder "geführt" werden.

fraulein smilla
30. August 2024 - 10.39

Taktisch waehlen heist die AFD darf auf keinen Fall die erste Kraft werden . Ergo muessen SPD ,Gruene und FDP Waehler ueber ihren Schatten springen und der CDU ihre Stimme geben .