„Kyjv“ statt „Kiew“Ukrainische Flüchtlingsfamilie kommt bei Luxemburger unter – ein Besuch

„Kyjv“ statt „Kiew“ / Ukrainische Flüchtlingsfamilie kommt bei Luxemburger unter – ein Besuch
Der Grauhaarige hört zu, was Yulia, Pavlo, Gastgeber Romain (er las eine scheinbar wichtige SMS) und Dolmetscherin Veronika reden. Den Kindern Polina und Oleg war’s zu langweilig, die wollten lieber spielen. Foto: Editpress/Tania Feller

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Romain Collini hat ein geräumiges Haus und ein großes Herz. Dort hat er Yulia, Pavlo sowie deren Kinder Polina und Oleg aufgenommen. Seit acht Jahren sind der Luxemburger und die Ukrainer aus „Kyjv“ gut befreundet. Als der Krieg ausbrach, hat er ihnen angeboten, nach Sanem zu kommen. Seit dem 9. März sind sie dort. Weiterhin aber gelten den Daheimgebliebenen ihre Gedanken – und Taten. Beschreibung eines Besuches.

„Kyjv!“, so solle man den Namen der ukrainischen Hauptstadt schreiben, sagt Pavlo. Viele Ukrainer würden die im Deutschen gebräuchliche Schreibweise „Kiew“ nicht mögen. „Kiew“ leitet sich vom Russischen ab, „Kyjv“ hingegen vom Ukrainischen. Ihre 1991, nach sowjetischer Fremdherrschaft, wiedergewonnene Unabhängigkeit würden die meisten Ukrainer auch mit ihrer Sprache ausdrücken wollen.

Anfang März ist Pavlo (50) mit seiner Lebenspartnerin Yulia (40) und den Kindern Polina (16) und Oleg (10) nach Luxemburg geflüchtet. Vor Putin und den Russen. „Unsere Wohnung wurde beschossen, auch jene meiner Mutter“, sagt Yulia: „Wir haben fast alles zurücklassen müssen.“ Dass es so weit kommt, damit hätten sie nicht gerechnet. Trotzdem hätten sie recht früh alle Vorkehrungen für eine Flucht getroffen.

Am 9. März ist die Familie aus „Kyjv“ bei Romain Collini in Sanem angekommen. Nach einer strapaziösen Reise durch die Ukraine, Polen und Deutschland. Sieben Tage lang. Rund 2.100 Kilometer mit dem eigenen Auto.

Echter Freundschaftsbeweis

Aber warum nach Luxemburg? Das liegt an der acht Jahre alten Freundschaft mit Romain. Kennengelernt haben sie sich, als Romain, der in „Kyjv“ öfters geschäftlich zu tun hatte, Pavlo als Dolmetscher engagierte. „Als mir bewusst wurde, was sich da in der Ukraine anbahnt, habe ich sie angerufen und gesagt, dass sie nach Sanem kommen sollen“, sagt Romain, der über ein geräumiges Haus verfügt und viel Anteilnahme und Hilfsbereitschaft zeigt. 

Yulia und Pavlo sind nicht zum ersten Mal in Luxemburg, sie haben Romain schon das eine oder andere Mal besucht. Das Land gefällt ihnen. Viele Ukrainer wüssten nicht, was es alles zu bieten hat, sagt Yulia.

Viel Freizeit hat sich die Familie in den letzten zwei Wochen aber nicht gegönnt. „Wir waren auf Meetings und Demonstrationen.“ Zudem standen viele Behördengänge an. Um als temporärer Flüchtling anerkannt zu werden, zum Beispiel, oder um die Einschulung der Kinder zu regeln. Aber auch, um krankenversichert zu sein. Das seien sie bisher nicht. Seit zehn Tagen würden sie darauf warten. „Wir sind es auch noch nicht“, sagt Veronika, die vielsprachige Dolmetscherin, die mit ihrer Familie ebenfalls im März aus der Ukraine geflüchtet ist.

„Ich habe jetzt wirklich keine Zeit, meine Gefühle einzuordnen, aber hier explodiert zumindest nichts“, sagt Yulia. Im Gespräch wird deutlich, dass sie und Pavlo in Gedanken im Heimatland, ja gar an der Front sind. Bei Familienangehörigen, kämpfenden Brüdern und Freunden.

„Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt“, sagt Yulia auf die Frage, wie lange sie wohl in Luxemburg bleiben werden. Nur so lange als nötig, klingt in ihrer Antwort mit. Ja, auch Yulia und Pavlo sind nicht gekommen, um zu bleiben. Der Weg zurück müsse aber ein Weg zurück in ein freies, autonomes Land sein. In einem von Putin kontrollierten Marionettenstaat wollen sie jedenfalls nicht leben. Yulia, die im Donbass, im Osten des Landes, geboren wurde und 21 Jahre lang dort lebte und auch drei Jahre in Russland verbrachte, hegt scheinbar wenig Sympathie für die Russen: „Nach einigen persönlichen Erfahrungen war für mich Schluss mit guten Russen.“ Mit aller Kraft wollen sie sich dafür einsetzen, dass der „Feind“ nicht die Oberhand in der Ukraine gewinnt. Konkret bedeutet das, dass sie Geld und Material sammeln, um das Militär sowie die Volontärsbewegung und damit auch die Zivilbevölkerung zu unterstützen – um die russische Invasion zu stoppen.

Hätten sie keine Kinder, wären Yulia und Pavlo nicht weggegangen aus der Ukraine, daran lassen sie keinen Zweifel. Auch daran nicht, dass sie bereit seien, für die Freiheit zu sterben. 

Wenig Begeisterung für Selenskyj

„Wunderbar, sehr komfortabel“, so bezeichnen beide das Leben in „Kyjv“ – vor der Invasion. Beide haben für einen internationalen Mobilfunkkonzern gearbeitet. Dort haben sie sich auch kennengelernt. Yulia arbeitet zurzeit noch von Luxemburg aus immer noch für die Firma. Pavlo hilft im Zentrum in Luxemburg, wo Flüchtlinge aus der Ukraine ankommen.

Sie hätten nichts vermisst in ihrem Leben, außer vielleicht etwas mehr Zeit für Urlaub, aber nichts wirklich Wesentliches. Wer in „Kyjv“ lebe, blicke ganz bestimmt nicht nach Moskau, sagt Pavlo. Aber auch den Westen, also die EU, bezeichnen beide nicht unbedingt als Vorbild. So wie sie reden, klingen sie zufrieden mit ihrem Leben in „Kyjv“, in einer Demokratie. Dienstleistungen – außer Transport – seien dort günstiger und oft auch besser. Und selbst wenn einiges in der EU anders, besser sein sollte, „so ist und bleibt die Ukraine unser Land, unsere Heimat“. Dass sie Heimweh haben und zurückwollen, daraus machen sie kein Geheimnis.

Präsident Wolodymyr Selenskyj löst bei Yulia und Pavlo offensichtlich keine große Begeisterung aus. Bei Veronika, der Dolmetscherin, auch nicht. Sie sprechen von gemischten Gefühlen. Allerdings sei das, was er jetzt mache, wahrscheinlich das Beste, was die Ukraine erhoffen könne. Vor dem Krieg sei das anders gewesen. Weder er noch Yulia hätten Selenskyj damals im Wahlkampf unterstützt. Wen hätten sie gerne an der Spitze der Ukraine gehabt? „Poroschenko!“ Jener war von 2015 bis 2019 Präsident und sehr EU-orientiert.

„Ruhm der Ukraine“, sagen Yulia und Pavlo zum Abschied. Ihr Land, ihre Heimat möchten sie in der EU und in der NATO sehen. Sich selbst und ihre Kinder zu Hause – in Sicherheit.