Mögliche ErklärungenWarum strebt der Kontinent nach rechts, Großbritannien aber nach links?

Mögliche Erklärungen / Warum strebt der Kontinent nach rechts, Großbritannien aber nach links?
Oppositionsführer Keir Starmer hat eine Tugend daraus gemacht, seine Partei als pragmatisch darzustellen Foto: AFP/Geoff Caddick

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Auf dem europäischen Kontinent erhielten viele nationalpopulistische und harte rechte Parteien Aufwind bei der Europawahl. In Frankreich steht das RN an der Schwelle zur Macht. Hingegen sagen alle Umfragen in Großbritannien bei der Unterhauswahl diese Woche den Sieg der Sozialdemokraten voraus. Woran liegt das? Mögliche Lösungsansätze gibt es mehrere.

Das Wahlsystem

Auf der Insel gilt das Mehrheitswahlrecht. Es zwingt die beiden großen Parteien zur Existenz als breitgefächertes Auffangbecken für Mitte-Links und Mitte-Rechts, weil Wahlen in der Mitte der Gesellschaft gewonnen werden. Extreme Parteien auf der Rechten oder Linken haben kaum eine Chance. Das verhinderte in den 1930er Jahren das Emporkommen des ursprünglich aus der Labour Party hervorgegangenen Faschisten Oswald Mosley und dessen „New Party“. Und es hielt in diesem Jahrhundert die diversen Vehikel des einst zu den Konservativen gehörenden Nationalpopulisten Nigel Farage in Schach.

Nur im Europaparlament, das auf der Insel ohnehin kaum jemand ernstnahm, konnte Farage polemisieren. Und auch das erst, seit Labour-Premier Tony Blair für die Europawahlen (wie auch für die Urnengänge zu den Regionalparlamenten von Schottland, Nordirland und Wales) das Verhältniswahlrecht zuließ. Bei der Unterhauswahl 2015 holte Farages UKIP 12,6 Prozent der Stimmen, gewann aber lediglich ein Mandat im 650-köpfigen Unterhaus.

Allerdings gelang es Farage auch ohne Mandat im Unterhaus, die Torys vor sich herzutreiben. Im Verbund mit Gleichgesinnten innerhalb der konservativen Partei, finanziert von steinreichen Geschäftsleuten, angefeuert von der nationalistischen Presse, setzte er die Volksabstimmung über den britischen Verbleib in der EU durch.

Die bessere Integration

So uneinig das Königreich auch scheinen mag – „vereinigt“ ist es immerhin seit 1707, nämlich seit der Union von Schottland und England (sowie Wales). Die Briten hatten also mehrere Jahrhunderte Zeit, sich an eine Idee von der Nation zu gewöhnen, die nicht auf einer Ethnie oder historischen Tradition beruht. Freilich trifft dies auch auf andere europäische Staaten zu, etwa die Schweiz außerhalb des Brüsseler Clubs oder das EU-Mitglied Belgien.

Besser als in anderen früheren Kolonialstaaten scheint jedenfalls die Integration ethnischer Minderheiten seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts gelungen zu sein, worauf der Sozialforscher Sunder Katwala hinweist. So ist beispielsweise in Frankreich die Arbeitslosigkeit unter Immigranten viel höher als in der autochthonen Bevölkerung, auf der Insel bleibt der Unterschied minimal. Die Ghettoisierung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen hat auf der Insel in den vergangenen zwanzig Jahren abgenommen.

Nicht zuletzt führen Beispiele erfolgreicher Migranten(-Kinder) zu positiven Rückkoppelungseffekten. In der Politik haben Menschen mit Migrationshintergrund die wichtigsten Regierungsämter erreicht. Von „Europas Zufluchtsort der Mäßigung“ spricht der Kolumnist Janan Ganesh in der Financial Times.

Nationaler Sonderweg ist out

Stellte die Entscheidung zum EU-Austritt vor acht Jahren bereits den Höhepunkt populistischer Zuckungen dar? Wie auch immer man den Ausgang des Referendums beurteilt: Dass sich Millionen von Briten beteiligten, die sonst von Politik nichts wissen wollen, steht außer Frage. Geblendet von simplen Parolen („Die Kontrolle zurückgewinnen“) und glatten Lügen („70 Millionen Türken kommen in die EU“) erteilten sie dem Londoner und Brüsseler Establishment eine massive Abreibung – und tragen die Verantwortung für die Folgen ihrer Entscheidung.

Was folgte, war ein stetiger Prozess der Ernüchterung, während immer neue Tory-Premierminister der wichtigsten Neuorientierung britischer Innen- und Außenpolitik seit 50 Jahren Positives abzugewinnen versuchten. Die Hinwendung zur pragmatischen Labour-Party stellt eine stillschweigende Einwilligung dar: Wir müssen aus wirtschaftlichen Gründen wieder näher an die EU rücken, der nationale Sonderweg ist out.

Hauptsache Veränderung

Nach 14 Jahren der Tory-Herrschaft ist im Land ein Hunger nach Veränderung zu spüren, die Regierung von Premier Rishi Sunak wird als unehrlich und diskreditiert wahrgenommen. Das politische Pendel schlägt in die andere Richtung aus. Nicht sehr weit, allerdings: Oppositionsführer Keir Starmer hat eine Tugend daraus gemacht, seine Partei als kompetent und pragmatisch darzustellen.

Damit entspricht er, so legen es die Umfragen nahe, dem Wunsch des Wahlvolks. Die Erwartungen der Briten scheinen ohnehin nicht sonderlich hoch zu sein, haben die Demoskopen ermittelt. Sie fassen die Stimmung im Land so zusammen: „Schlechter als die Torys kann es Labour auch nicht machen.“ Keine schlechte Ausgangslage für eine realistische Sichtweise auf die Führung einer hochkomplizierten Volkswirtschaft in international schwierigen Zeiten.

Starmers Lektion aus der Frankreich-Wahl

Drei Tage vor der Unterhauswahl in Großbritannien hat der Chef der oppositionellen Labour-Partei das Wahlergebnis in Frankreich als wichtiges Signal für Politiker bezeichnet. „Die Lektion, die ich daraus ziehe, ist, dass wir uns um die alltäglichen Sorgen so vieler Menschen kümmern müssen“, sagte Keir Starmer am Montag mit Blick auf das starke Ergebnis des rechtspopulistischen Rassemblement national (RN).
Starmer, dessen Partei laut Umfragen gute Chancen auf einen deutlichen Sieg gegen die seit 14 Jahren regierenden Konservativen hat, fügte an, seine Partei müsse sich dieser Aufgabe „stellen“. Die Politik müsse wieder zu einem „Dienst“ werden.
„Wir müssen (…) sowohl am Donnerstag im Vereinigten Königreich als auch in ganz Europa und der Welt zeigen, dass nur die Progressiven die Antworten auf die Herausforderungen haben, denen wir in diesem Land und in ganz Europa gegenüberstehen“, sagte Starmer.
Bei den Wahlen am Donnerstag droht den britischen Konservativen von Premierminister Rishi Sunak angesichts weitverbreiteter Unzufriedenheit mit ihrer Bilanz als Regierungspartei eine krachende Niederlage gegen Labour.
Zusätzlich unter Druck setzt die Tories Konkurrenz von Rechtsaußen: Die rechtspopulistische, einwanderungsfeindliche Partei Reform UK des früheren Brexit-Vorkämpfers Nigel Farage ist den Konservativen in den Umfragen dicht auf den Fersen – wobei offen ist, wie viele Parlamentssitze die Partei angesichts des britischen Mehrheitswahlrechts erreichen kann. (AFP)