Nadiya BigunWie funktioniert eine Volkswirtschaft zu Kriegszeiten? Gespräch mit der Vize-Wirtschaftsministerin der Ukraine

Nadiya Bigun / Wie funktioniert eine Volkswirtschaft zu Kriegszeiten? Gespräch mit der Vize-Wirtschaftsministerin der Ukraine
Nadiya Bigun, Vize-Wirtschaftsministerin der Ukraine, war Ende Juni zu Besuch in Luxemburg Foto: Editpress/Alain Rischard

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Nadiya Bigun, Vize-Wirtschaftsministerin der Ukraine, war Ende Juni auf Arbeitsbesuch in Luxemburg. Sie war Teil der Delegation für die beginnenden EU-Beitrittsgespräche und Rednerin auf der Nexus2050-Konferenz. Am Rande fand sie die Zeit für ein Gespräch mit dem Tageblatt über Kriegswirtschaft: Wie funktioniert eine Volkswirtschaft zu Kriegszeiten? Wie reagiert ein Wirtschaftsministerium?

Tageblatt: Wie hat sich die Wirtschaft des Landes seit Kriegsbeginn entwickelt?

Nadiya Bigun: Mit dem russischen Einmarsch im Jahr 2022 war die ukrainische Wirtschaftsleistung um rund 30 Prozent eingebrochen. Das war der größte Rückgang in unserer Geschichte. Trotzdem war es eine gute Nachricht: Die Weltbank hatte mit einem Minus von 50 Prozent gerechnet. Danach ging es, 2023, dann wieder aufwärts, um fast 5 Prozent. Das war so hoch, dass wir laut unserem Abkommen mit dem IWF einen höheren Zinssatz auf den Darlehen zahlen mussten.

Und im laufenden Jahr?

Im laufenden Jahr 2024 rechnen wir mit einem weiteren Plus von 4,7 Prozent. Ursprüngliche Schätzungen waren noch optimistischer – aber die russischen Angriffe auf unsere Energieversorgung haben einen großen, negativen Einfluss auf unsere Wirtschaft. Alle Unternehmer müssen mit Stromausfällen leben. Dabei sind gerade jetzt im Sommer viele Kernkraftwerke für Routine-Reparaturarbeiten abgeschaltet. Wir haben große Energieprobleme, und das landesweit.

In der Vergangenheit hat die Ukraine immer auf riesige zentrale Produktionsanlagen gesetzt. Diese sind aber jetzt zu Zielen für Raketenangriffe geworden.

Wie reagieren Sie, als Land, als Ministerium?

Die Geschäftswelt hat sich mittlerweile ziemlich gut angepasst. In 2022/23 haben viele Generatoren gekauft, und produzieren jetzt für den eigenen Bedarf, um sicherzustellen, dass ihre Produktion durchgehend laufen kann. Wenn eine Bäckerei jedoch einen Generator braucht, um Brot herzustellen, dann wird das Produkt deutlich teurer.

Die Energie ist aber nicht nur eine wirtschaftliche Herausforderung: Im Winter ist die Stromversorgung eine Frage des Überlebens. In den großen Wohnblocks in den Städten muss sichergestellt sein, dass das warme Wasser in den Rohren zirkuliert. Sie dürfen nicht einfrieren. Wir widmen dem Strom und der Stromverteilung sehr viel Aufmerksamkeit.

„Eine Menge neuer Chancen für den Privatmarkt sind entstanden“
„Eine Menge neuer Chancen für den Privatmarkt sind entstanden“ Foto: Editpress/Alain Rischard

Inwiefern?

In der Vergangenheit hat die Ukraine immer auf riesige, zentrale Produktionsanlagen gesetzt. Diese sind aber jetzt zu Zielen für Raketenangriffe geworden. Überall in der Ukraine. Wir versuchen zu reparieren – Russland versucht sie zu zerstören. Aber nach jedem Angriff wird die Situation komplizierter für uns. Als Ministerium fördern wir daher nun die Errichtung von kleinen, dezentralen Stromproduktionsanlagen. Gas, Sonne oder Wind. So ein komplexeres System zu demolieren, ist schwieriger und auch teurer. Wir wollen den Privatsektor dazu motivieren und dabei unterstützen. Wir diskutieren das mit den Unternehmen und den Banken.

Hat sich der Preis für Energie verändert?

Wir zahlen heute in etwa gleich viel für Energie als der durchschnittliche EU-Staat. In der Vergangenheit, vor dem Krieg, war Strom hierzulande viel billiger. Das Errichten von kleinen privaten Kraftwerken ist ein gutes Geschäftsmodell – für den Eigenverbrauch und für Investoren. Wir haben den Markt, der einst von wenigen Oligarchen kontrolliert wurde, dereguliert. Einige sind im Gefängnis – andere haben ihre Produktionseinheiten verloren. Der Krieg hat die Spielregeln verändert.

Das klingt überraschend positiv …

Der Krieg bringt eine Menge Leid mit sich. Innerhalb von kürzester Zeit hat er aber auch dazu beigetragen, eingefahrene Strukturen des sowjetischen Erbes zu verändern. Damit sind eine Menge neuer Chancen für den Privatmarkt entstanden. In der Ukraine hat der Krieg 2014 begonnen – aber bis 2022 hat sich kaum etwas verändert. Es gab keinen technischen Fortschritt, keine „Gamechanger“. Gekämpft wurde mit den alten sowjetischen Waffen. Das ist jetzt anders, auf beiden Seiten. Jetzt wird nach neuen Technologien, nach Innovationen gesucht. Drohnen haben die Situation rasant verändert. Und in diesen Bereich haben viele Unternehmen, viele Start-ups investiert. In den kommenden Jahren wird die Ukraine zu einem führenden Drohnen-Produzenten werden, davon bin ich überzeugt.

Mehr Privatwirtschaft zu Kriegszeiten?

Zu Kriegsbeginn hat es eine Debatte darüber gegeben, ob man im Sinne einer „Kriegswirtschaft“ alle Kräfte der Wirtschaft zentralisiert beim Staat bündeln soll. Aber jetzt haben wir ein sehr gutes Gleichgewicht: Eine freie Marktwirtschaft, die schnell, effizient und innovativ reagieren kann, während beispielsweise in Bereichen wie „Versorgung der Verteidigung“ mehr zentralisierte Entscheidungswege notwendig sind.

In der Vergangenheit gab es kaum Vertrauen in Staat und Regierung. Die Leute wollten keine Steuern zahlen. Heute wissen sie, warum sie es tun.

Wie steht es mit den Steuereinnahmen?

Auch da hat der Krieg die Einstellung der Menschen verändert. In der Vergangenheit gab es kaum Vertrauen in Staat und Regierung. Die Leute wollten keine Steuern zahlen. Heute wissen sie, warum sie es tun. Gleichzeitig bieten viele auch noch zusätzlich freiwillige Leistungen an. Am Anfang waren wir nicht bereit. Bürger und Geschäftsleute sprangen ein und unterstützten die Regierung. In den ersten sechs Monaten hat die Privatwirtschaft praktisch alles freiwillig abgedeckt: Unternehmen und Banken haben teils eigene, spezifische Abteilungen zur Beschaffung von jeglichem benötigten Material aufgebaut. Als Wohltätigkeit. Auch viele bekannte Persönlichkeiten haben mit ihren eigenen Wohlfahrtsverbänden Geld für die Armee gesammelt. Für unseren Sieg.

Und aktuell?

Heute verstehen die Geschäftsleute, dass es wichtig ist, Steuern zu bezahlen. Sie verstehen die Verbindung zwischen Steuern zahlen und für Waffen bezahlen zu können. Insgesamt sind die Menschen heute bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen. Sei es der Geschäftsmann und die Steuern oder der Mensch und sein Nachbar. Es hat einen Wandel in der Denkweise stattgefunden. Den Leuten ist klar geworden, dass es kein Wunder geben wird, dass wir uns selbst helfen müssen.

„Den Leuten ist klar geworden, dass es kein Wunder geben wird, dass wir uns selbst helfen müssen“
„Den Leuten ist klar geworden, dass es kein Wunder geben wird, dass wir uns selbst helfen müssen“ Foto: Editpress/Alain Rischard

Nehmen Sie denn heute mehr Steuern ein als früher?

Nein. Unsere Steuereinnahmen liegen etwa 20 Prozent unter denen von vor dem Krieg. Man muss aber bedenken, dass wir rund 20 Prozent unseres Territoriums verloren haben, vor allem im industrialisierten Osten. Die Wirtschaftsleistung ist etwa um ein Fünftel geschrumpft. Viele Unternehmen wurden gestoppt, zerstört. Auch hatten wir 2022 einige Steuersätze gesenkt, um den Unternehmen beim Überleben zu helfen. Die meisten wurden aber wieder angehoben, abgesehen von kriegsbedingten Ausnahmen in einigen Regionen. Etwa in der viel unter Beschuss stehenden Stadt Charkiw.

Wie ist es mit Geld aus dem Ausland?

Der Staatshaushalt ist eine Herausforderung. Geld aus dem Ausland ist jedoch vor allem fürs Militär wichtig. Wir sind bereit, ohne Licht dazusitzen, aber unsere Verteidiger brauchen Waffen. Das ist unsere erste Priorität.

Wie steht es mit der Arbeitslosigkeit im Land?

Das ist schwierig zu sagen. Wir haben sehr viele Leute verloren. Viele, vor allem solche mit guter Ausbildung, sind weggezogen. Schätzungsweise vier bis sieben Millionen. Vor dem Angriff von 2022 hatte die Ukraine 38 Millionen Einwohner. Vor 2014 waren es mehr als 42 Millionen. Auch gibt es viele intern Vertriebene. Damit wird es fast unmöglich, genau zu sagen, wie hoch die Arbeitslosenquote im Lande wirklich ist. Wir bilden derzeit viele Frauen als Lkw-Fahrer oder Bediener von schweren Maschinen aus. Wir haben nicht genug Männer – manche sind im Krieg, andere schreiben sich nicht als arbeitslos ein, um nicht eingezogen zu werden.

Wie ist die Stimmung in der Geschäftswelt?

Die ist ziemlich optimistisch. Die hat sich bereits an die neuen Begebenheiten angepasst. Wir haben heute mehr Firmengründungen als vor dem Krieg. Mehrheitlich kleine und mittlere Unternehmen. Auch von Leuten, die für einige Zeit umgezogen sind. Es gibt viele Geschäftsgelegenheiten. Auch die Armee braucht viele Produkte. Es wird entwickelt, geschaffen und investiert. Das Unternehmertum läuft gut. Auch von den Freiwilligen, die Anfang 2022 in eine Armee ohne strikte Kontrolle, und mit viel Eigeninitiative eingezogen sind, sind heute viele als Geschäftsleute tätig und stellen Benötigtes her, oder liefern es.

Wir sind bereit, ohne Licht dazusitzen, aber unsere Verteidiger brauchen Waffen

Das unterstützen Sie?

Wir haben unter anderem eine „Made in Ukraine“-Plattform geschaffen. Mit Listen von Aktivitäten und Angeboten. Wir sind immer noch ein großes Land mit einem großen Markt. Aber die alten, traditionell industriellen Regionen des Landes befinden sich nahe an Russland. Dort befanden sich vor 2022 auch viele der Kunden. Nach 2014 hatte sich da nichts verändert. Heute jedoch sind die Märkte weg. Sie müssen neue Abnehmer finden. Dabei helfen soll nun eine effizientere Nutzung des Innenmarktes.

Wir arbeiten auch am Markennamen „Made in Ukraine“. Um es im Land populärer zu machen. Da müssen wir gegen das alte Sowjet-Denken vorgehen, dass „die internen Produkte immer die schlechteste Wahl sind“. Ohne Wettbewerb gab es damals keine attraktiven Produkte. Und jetzt 30 Jahre später haben wir das Erbe immer noch. Die ukrainischen Firmen nutzen immer noch gerne die englische Sprache für Werbesprüche. Heute respektieren wir unser Land viel mehr als vorher, unsere Verteidiger, aber auch unsere Produkte. Die Nachfrage der Haushalte ist stabil geblieben. Die Menschen erhalten ihre Gehälter.

„Es ist vor allem die lokale Geschäftswelt, die investiert. Die kennen das Land, die Situation und die Risiken.“
„Es ist vor allem die lokale Geschäftswelt, die investiert. Die kennen das Land, die Situation und die Risiken.“ Foto: Editpress/Alain Rischard

Doch die Industrie bleibt eine Herausforderung?

Es ist wichtig, im Land einzukaufen und zu produzieren. Wir haben sehr gutes Land für Agrikultur, das weiterverarbeitende Gewerbe darum herum, das es in der Sowjetzeit mal gab, haben wir jedoch verloren. Wir müssen jetzt viel investieren, damit wir nicht einfach nur Rohstoffe exportieren. Das ist eines unserer wichtigsten Ziele. Stärken haben wir auch bei Gas-Speichern, im Maschinenbau und in der IT-Technologie. Wir haben Programme, um kostengünstige Darlehen und Subventionen an Firmen zu geben, die investieren wollen.

Traditionell liegt unsere Industrie im Osten des Landes. Aus Charkiw wollen jedoch viele nicht gegen Westen ziehen – dort fehlen die spezialisierten Mitarbeiter und die Ausbildungsstätten. Vor allem für ältere Menschen ist das Umziehen jedoch oft schwierig. Viele Firmen haben daher kleinere lokale Niederlassungen, oder Lager, etwa für den Export, im Westen der Ukraine aufgebaut.

Erhalten Sie denn auch Investitionen aus dem Ausland?

Es ist vor allem die lokale Geschäftswelt, die investiert. Die kennen das Land, die Situation und die Risiken. Sie investieren heute und warten nicht auf das Ende des Krieges. Wir haben auch einige Investitionen auch dem Ausland, aber eher weniger. Meist sind es dann Firmen, die bereits Erfahrung in der Ukraine haben. Es gibt jedoch auch Programme für Exportversicherungen.

Wie steht es mit der Korruption?

Die Lage ist dabei, sich zu verbessern. Es bleibt natürlich eine Herausforderung. Auch ein Erbe der Sowjetzeit. Laut Transparency International haben wir uns während des Krieges im Ranking verbessert. Wir haben einen schlechten Ruf, und wir müssen daran arbeiten, das Bild der Ukraine zu verbessern. Hilfreich ist der Krieg dabei nicht: Russland greift uns auch an der Informations- und Desinformationsfront an.

Ein schwieriger Job im Ministerium?

Die Ukraine hat sich seit 2016 ziemlich grundlegend verändert. Wegen des Krieges mussten wir uns schnell verändern. Wir hatten keine Wahl. Entweder wir verändern uns, oder wir verschwinden. Viele, die aus der Geschäftswelt kommen, arbeiten heute für die Regierung. Auch ich komme aus der Geschäftswelt, war zuvor zuständig für den Einkauf bei einigen großen Unternehmen. Ich sehe es als „mein Dienst für das Land“.

Zur Person:

Seit Juli 2022 ist Nadiya Bigun Vize-Wirtschaftsministerin der Ukraine. Dort ist sie heute einerseits zuständig für die industrielle Entwicklung des Landes, und andererseits für die staatliche Beschaffungspolitik.
Nach Erfahrungen bei großen Unternehmen war sie seit 2016 zuständig für den Aufbau von „Prozorro“, einer Plattform für die wettbewerbliche Vergabe von staatlichen Aufträgen. Besonderheit der Plattform ist ihr Niveau der Transparenz: „Alle Dokumente sind frei zugänglich. So können sich die Wettbewerber gegenseitig kontrollieren“, erläutert sie. „Es ist eine unserer größten Reformen.“ Eine Einführung während Kriegszeiten sei dabei sehr schwierig gewesen. Heute laufen 70 Prozent aller staatlichen Aufträge über die Plattform.
Während ihrer Visite in Luxemburg hielt sie, neben ihrer Beteiligung an den EU-Beitrittsgesprächen, auch eine Rede im Rahmen der Nexus2050-Konferenz auf Kirchberg. Hier stellte sie neben „Prozorro“ auch ein Projekt des ukrainischen Ministeriums für Digitalisierung vor: Per App ist es mittlerweile möglich, auf neun staatliche Dokumente und auf 70 staatliche Dienstleistungen zurückgreifen. „Etwa, um ein Kind anzumelden. Sehr nützlich, mit derart vielen Vertriebenen“, so die auf der Krim aufgewachsene Technokratin, die in keiner politischen Partei Mitglied ist.

 
  Foto: Editpress/Alain Rischard
Schwarzer Rauch über der ukrainischen Hauptstadt Kiew am 8. Juli 2024, inmitten der russischen Invasion
Schwarzer Rauch über der ukrainischen Hauptstadt Kiew am 8. Juli 2024, inmitten der russischen Invasion Foto: AFP/Sergei Supnsky