Chronik einer Tragödie

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Schlange stehen am frühen Morgen, das gibt es eigentlich nicht. Die Vorstellungen am Abend hingegen stellen die Geduld der Wartenden immer auf eine harte Probe.

Je nach Karte muss man dort bis zu zwei Stunden vor dem Filmbeginn anstehen, damit man auch sicher sein kann, einen Platz zu bekommen.

Als Regel gilt: Je obskurer das Filmland, umso kürzer die Schlange. Bei amerikanischen Filmen weiß man, rechtzeitig vor Ort zu sein, garantiert den Einlass. Ganz besonders schlimm war es Sonntagabend, als es hier in Strömen regnete; der Regenschirmverkauf der fahrenden Händler boomte. Dennoch zeigten sich die Verantwortlichen oben auf der Treppe wenig beeindruckt von den Regenschauern.

Zumindest kommt man so ins Gespräch mit Kollegen aus Ländern, in denen man bislang noch nicht gewesen war. Man erfährt so manches über Land und Leute und bekommt den einen oder anderen Tipp, was man auf keinen Fall verpassen sollte. Immer wieder gab es in den letzten Tagen positive Kommentare zu einer belgischen Produktion zu hören.

Heftige Diskussionen

Noch nicht viele hatten den Film gesehen, aber diejenigen, die bereits vor Cannes einen Blick ins Drehbuch hatten werfen können, steckten die anderen mit ihrer Begeisterung an. In engagierten Diskussionen fiel immer wieder eine Bemerkung: „Warum wurde der Film ’A perdre la raison’ nicht für den offiziellen Wettbewerb ausgewählt? Damit hätte er eine Chance auf die Goldene Palme, und bei allem, was in diesem Jahr bislang zu sehen war, wären die Aussichten auf diese Auszeichnung gar nicht mal so schlecht.

Mit „A perdre la raison“ verarbeitet Joachim Lafosse den Fall Lhermitte. 2007 ermordete die frühere Lehrerin und Hausfrau Geneviève Lhermitte ihre fünf Kinder. Der anschließende Selbstmordversuch schlägt fehl. Lafosse hat sich vor Gericht das Recht erstritten, seine Sicht der Dinge zu filmen, auch wenn die Familie ihn daran hindern wollte und nun zeitgleich mit dem Filmstart in Belgien die eigene Version des Geschehens vorlegt. „A perdre la raison“ ist aber kein Dokumentarfilm, sondern der Versuch eines Regisseurs, dieser Geschichte habhaft zu werden und sie mit eigenen Bildern darzustellen.

Hochkarätig besetzt

Verpflichten konnte er bekannte Namen wie etwa Emilie Dequenne als Mutter, Tahar Rahim als Vater und Niels Arestrup. Dequenne begann ihre Karriere als Rosetta der Brüder Dardenne, und Rahim glückte der Durchbruch dank „Un prophète“ von Jacques Audiard, in dem er an der Seite von Arestrup zu sehen war.

Am Mittwochabend stand der Film von Joachim Lafosse auf dem Programm des „Certain regard“. Bis auf den letzten Platz war der Saal gefüllt und man erkannte unter den Gästen viele belgische Journalisten, die bei der Abendpremiere dabei sein wollten.

Mehr als zwei Dutzend Mitglieder des Filmteams waren auf der Bühne, als Regisseur Lafosse ein paar Worte an das Publikum richtete. Der Eindruck, den Lafosse mit seinen wenigen Sätzen hinterließ, war der eines zurückhaltenden jungen Mannes, der sich der Tragik der Ereignisse und damit auch seiner Verantwortung durchaus bewusst war: Er zeigt sich standfest und überzeugt von seiner Idee. Der Film selbst reflektiert die Persönlichkeit des Regisseurs. Behutsam erzählt er Murielles Geschichte, die von völlig verliebt über total erschöpft nach der Geburt von vier Kindern bis hin zu psychisch krank durch die allgegenwärtige Abhängigkeit von ihrem Mann und dessen Adoptivvater geht. Ruhig lässt er die Figuren ihren Platz finden, um sie dann nach und nach in ihre Schranken zu verweisen, aus denen sie nicht auszubrechen vermögen.

Der Film fasziniert durch die hervorragenden Schauspieler, den besonnenen Erzählstil und sachten Rhythmus, der aus dieser Chronik einer angekündigten Tragödie einen sehenswerten Film macht.