Alain spannt den BogenJewgeni Kissin: Klavierkunst auf allerhöchstem Niveau

Alain spannt den Bogen / Jewgeni Kissin: Klavierkunst auf allerhöchstem Niveau
Meister am Klavier: Jewgeni Kissin Foto: Sébastian Grébille

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Am vergangenen Freitag fand das letzte Konzert der Spielzeit 2023/24 statt. Man hatte mit einem Paukenschlag begonnen – am 3. September eröffneten die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko den Reigen unzähliger hochklassiger Konzerte – und wollte die Saison auch mit einem Paukenschlag beenden. Dafür wurde der russische Starpianist Jewgeni Kissin eingeladen, und der hielt wie immer, was er verspricht. Nämlich Klavierkunst auf allerhöchstem Niveau.

Was müssen sich die armen Gestalter der Abendprogramme doch alles einfallen lassen, um einem Konzert ein dramaturgisch passenden Titel zu geben. Das Kissin-Konzert fand somit unter dem alles und nichtssagenden Titel „100 years with the great pianists“ statt, den man ja fast auf jedes Klavierrezital anwenden kann. Nun, die Pianisten, die an dem Abend ins Feld geführt wurden, waren Ludwig van Beethoven, Frédéric Chopin, Johannes Brahms und Serge Prokofjew und Kissin spielte Werke, die zwischen 1814 und 1912 komponiert wurden. Also 100 Jahre Klaviermusik. Die voll besetzte Philharmonie – sogar die fünf Emporenreihen hinter der Bühne waren voll – erlebte ein Konzert von seltener Intensität, Emotionalität und stilistischer Perfektion.

Feinste Schattierungen

Jewgeni Kissin, das Wunderkind, das schon mit zwei Jahren erste Gehversuche am Klavier machte, begann sein Rezital mit Ludwig van Beethovens Klaviersonate Nr. 27, einem Werk, das im Schatten der gewaltigen letzten drei Sonaten steht, doch nicht uninteressant ist. Das Publikum hörte einen ungemein leichten Beethoven, der hier ganz deutlich bereits romantische Züge vorausnahm und in seinem zweiten Satz Rondo an Schuberts liedhaften Melodienreichtum zeigte. Kissin spielte die Sonate dann auch sehr feinsinnig, was dem eher kompakt wirkenden zweisätzigen Werk sehr entgegenkam. In seinem Spiel betonte Kissin das Episodenhafte, sodass die oft gegensätzlich wirkenden Ideen messerscharf zur Geltung kamen. Dank seiner starken linken Hand erhielt das Werk dann auch noch eine ganz besondere Dynamik, die Beethovens Kunst sehr schön auslotete. Nach dem gesanglichen Rondo folgten die ebenfalls gesanglich wirkende Nocturne op. 48 Nr. 2 von Chopin, die Kissin als einen hervorragenden und gestaltungsfreudigen Interpreten auswies, der keine Sekunde dem Zufall überließ, sondern jeder wehmütigen Emotion nachspürte. Noch stärker traten die Schattierungen dann bei der folgenden Fantasie op. 49 auf, wie Beethovens Sonate ein Werk mit vielen verschiedenen musikalischen Abschnitten. Der trauermarschähnliche Beginn führte zu ruhigen und lebendigen, marschähnlichen und virtuos gestalteten Abschnitten, die von Kissin mit wunderbarer Ausgewogenheit und stilistischem Feingefühl herausgearbeitet wurden.

Ein Meister der Facetten

Die Vier Balladen op. 10 von Brahms besitzen bis auf die erste kein Programm und ermöglichen es somit, der Fantasie freien Lauf zu lassen und ein eigenes Szenario aufzustellen. Auch hier bewährte sich wieder die wunderbar formende linke Hand von Kissin, die Brahms’ ohnehin schon dunkle Balladen noch düsterer, noch tragischer und tiefer erschienen ließen. Kissin wählte dabei sehr ruhige, langsame Tempi und vermochte hier einen enormen Spannungsbogen zu schlagen. Mit der virtuosen Aufführung von Prokofjews 2. Sonate, die hier zum ersten Mal in der Philharmonie erklang (wie übrigens auch die Vier Balladen von Brahms) konnte der Kontrast nicht größer sein. Allerdings besitzt dieses Werk, genau wie die vorangegangenen, einen eher episodenhaften Charakter, wo jeder der vier Sätze grundverschiedene Facetten besitzt.

 Foto: Sébastian Grébille

Der erste Satz wechselt zwischen kühlen, analytischen und virtuos gespielten Momenten hin und her, der zweite begeistert durch rhythmische Prägnanz, der dritte ist ein introspektiver, fast romantischer langsamer Satz mit wunderbar zarten Melodien. Die Sonate schließt dann mit einem brillanten, wenn auch schroffen und akzentreichen Vivace. 1912 komponiert, bleibt die Sonate zwar zum Teil noch der Tradition verpflichtet, besitzt aber schon sehr starke Charakteristika des kommenden Modernismus. Auch hier glänzte Jewgeni Kissin mit einem überragenden und expressiven Spiel, das die Musik bis in die Extreme auslotete und das Publikum von den Stühlen riss. Riesiger Jubel und minutenlange Standing Ovations feierten den russischen Starpianisten, der heute ohne Zweifel zu den wirklich großen Meistern seines Fachs gehört. Für den nicht enden wollenden Applaus bedankte sich Kissin dann mit drei ebenfalls bejubelten Zugaben: der Mazurka Nr. 45 von Chopin, dem Marsch aus Prokofjews Oper The Love for Three Oranges und einem Walzer von Johannes Brahms. Und so ging das letzte klassische Konzert der Spielzeit 2023/24 in der Philharmonie mit einem künstlerischen Ausrufezeichen zu Ende.

 Foto: Sébastian Grébille