Weniger ist oft mehr

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Die ersten paar Minuten des Films gehören Jean-François Wolff. Er sitzt im Auto, hält an, um zu pinkeln, fährt weiter, raucht, hält nochmals an, weil er merkwürdige Geräusche hört, steigt aus um nachzusehen und wird überfahren. Von einem Kleintransporter.

Von nun an liegt er im Koma, bis zum Ende des Films spricht er kein einziges Wort. Er spielt allein durch seine Präsenz und seine Atmung.

„Elle ne pleure pas, elle chante“

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Denn in dem Film „Elle ne pleure pas, elle chante“ nach dem gleichnamigen Roman von Amélie Sarn, geht es in erster Linie um Laura (Erika Sainte), die Tochter des Verunglückten. Laura wurde in ihrer Kindheit von ihrem Vater sexuell missbraucht, hatte die Familie so schnell wie möglich verlassen und sieht den Krankenhausaufenthalt des Vaters, wie er da so hilflos und hässlich in seinem Krankenbett liegt, nun als Chance, mit ihm abzurechnen. Sie erzählt ihm ihre Geschichte, konfrontiert ihn mit Vorwürfen, schüttet sich aus und brüllt ihn an, als er kurzzeitig instabil wird, sie sei noch nicht fertig! Er dürfe noch nicht sterben!

„Klein-Mädchen-Fantasien“

Ansonsten wird in dem Film nicht viel gebrüllt. Ganz im Gegenteil. Die Mutter redet nicht viel, will die Wahrheit nicht wahrhaben, weicht immer wieder aus, wenn Laura mit ihr über den Vater reden möchte und tut letztendlich Lauras Anschuldigungen als „Klein-Mädchen-Fantasien“ ab. Laura selbst lebt alleine in einer Wohnung an der Peripherie einer Großstadt, ruft mal Jérôme, ihren Noch-Nicht-Freund, mal Luc, ihren Nicht-Mehr-Freund an, schläft mal mit dem einen, mal mit dem anderen und schmeißt beide danach sofort aus ihrem Bett und ihrer Wohnung. Bloß keine Zärtlichkeiten mehr …

Regisseur Philippe de Pierpont hat einen Weg gefunden, das nicht nur schwere, sondern auch in allen möglichen Variationen behandelte Thema des Inzests, zwar als Ausgangspunkt zu nehmen, dennoch Lauras Geschichte als eine geglückte Selbstbefreiung zu erzählen. Nicht nur die beinahe tägliche Konfrontation mit dem bewusstlosen Vater selbst, sondern besonders auch die durch den Unfall wieder enger gewordene Beziehung zu ihrem Bruder (Jules Werner) hilft Laura, sich wiederzufinden. Ihr Bruder hat selbst von den sexuellen übergriffen des Vaters nie etwas mitbekommen. Als Laura ihm davon erzählt, möchte zwar auch er keine Details hören, doch kommt über seine Lippen ein „Es tut mir leid“. Die Geschwister liegen sich in den Armen und als Laura sich verabschiedet, sieht sie das erste Mal in dem Film glücklich aus.

Sie besucht noch einmal den Vater, jetzt kann er sterben, sie ist fertig mit ihm. Laura fährt nach Hause, räumt ihre Umzugskisten aus und ihre Wohnung auf und unternimmt erste Schritte, um ihren vergraulten „Noch-Nicht-Freund“ zurückzubekommen.

Hervorragende Leistung

Es wäre schön, wenn ein missbrauchter Mensch durch Selbsttherapie so weit kommen könnte, ein bisschen schwer fällt es schon, der Geschichte dieses zwar offene doch dennoch glückliche Happy End abzunehmen. Doch wegen der hervorragenden Leistung von der 1981 geborenen, belgischen Schauspielerin Erika Sainte und auch dem überzeugenden Jules Werner sieht man gerne über einige Ungereimtheiten im Drehbuch hinweg. Die sensible und subtile Art, mit der Regisseur Philippe de Pierpont, für den „Elle ne pleure pas, elle chante“ nach vielen Erfolgen im Dokumentarfilm nun der erste Spielfilm ist, Gefühle transportiert, ist bewundernswert. Er braucht keine großen Handlungsstränge oder Dialoge. Der Film, der durch eine Koproduktion zwischen der belgischen Iota Production und der luxemburgischen Produktionsfirma Tarantula entstanden ist, ist wieder einmal ein Beweis dafür, dass weniger eben doch oft mehr ist.