GroßbritannienSozialdemokraten wollen Wirtschaft mit staatlichen und privaten Investitionen ankurbeln

Großbritannien / Sozialdemokraten wollen Wirtschaft mit staatlichen und privaten Investitionen ankurbeln
Die zukünftige Finanzministerin Rachel Reeves (Labour) predigt Stabilität und fiskalische Disziplin Foto: Lucy North/PA Wire/dpa

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In Meinungsumfragen zu den Kompetenzfeldern der britischen Parteien hinkt Labour beim Thema Wirtschaft und Finanzen traditionell stets den Torys hinterher. Das ist diesmal anders.

Den bevorstehenden Wahlsieg verdanken die Sozialdemokraten nicht zuletzt einer finanzpolitischen Fehlkalkulation von katastrophalem Ausmaß: Das schuldenfinanzierte Steuersenkungsprogramm der Kurzzeit-Premierministerin Liz Truss verursachte im Herbst 2022 eine Bond-Krise und gefährdete zeitweise sogar die Stabilität britischer Pensionsfonds. In der Folge stiegen Inflation und Kreditzinsen, was Millionen von Hausbesitzern in ernste Liquiditätsschwierigkeiten brachte.

Die zukünftige Finanzministerin Rachel Reeves arbeitete nach dem Wirtschaftsstudium in Oxford und an der London School of Economics (LSE) zunächst bei der Bank of England, ehe sie 2010 ins Parlament einzog. Die 45-Jährige predigt Stabilität und fiskalische Disziplin, nicht zuletzt, um sich von den Torys abzusetzen. Bei jeder Gelegenheit prangert sie die „schreckliche Bilanz“ der insgesamt 14 konservativen Regierungsjahre an: „Geht es den Leuten heute besser als 2010? Die Antwort lautet: Nein.“

Schuldenkrise und galoppierende Inflation gaben Reeves und ihrem Chef, dem designierten Premierminister Keir Starmer, Rückendeckung gegenüber all jenen zukünftigen Kabinettskolleginnen, die für ihre Ressorts wie Gesundheit, Bildung oder Energie nach Investitionen lechzen. Besonders klar fiel die Beschneidung des ehrgeizigen Klimaschutz-Programms aus, das Labour nach dem Vorbild von US-Präsident Joe Biden plant. Statt einer jährlichen Finanzspritze von 28 Milliarden Pfund für erneuerbare Energien und bessere Häuserisolierung ist nun nur noch von 5 Milliarden Pfund (5,9 Milliarden Euro) pro Jahr die Rede. Ohnehin seien alle Pläne davon abhängig, ob die erhoffte Ankurbelung der Wirtschaft gelingt.

Diesem Ziel dienen Pläne der neuen Regierung, die noch in diesem Monat umgesetzt werden sollen. So sieht Starmers Team vor, was potenzielle Investoren seit langem fordern: eine Reform der Planungs- und Baugesetzgebung. Hier sollen Vorschriften verschlankt und mögliche Einwände aus dem Weg geschafft werden. Besonders im dicht besiedelten England gibt es rund um die Metropolen wie London, Manchester und Birmingham sogenannte Grüngürtel, die nicht bebaut werden dürfen.

Investitionen in Wind- und Solarenergie

Freilich taugt längst nicht alles zum Grüngürtel gehörende Land als Naturschutzgebiet. Einer Studie des Thinktanks Centre for Cities zufolge ließen sich im Umkreis heute bereits bestehender Bahnhöfe in den Außenbezirken der Großstädte zwei Millionen umweltgerechte Häuser bauen; davon würden knapp zwei Prozent des Grüngürtels in Mitleidenschaft gezogen.

Beschleunigung werden auch die Planfeststellungsverfahren für Windkraftwerke im Land erfahren, die bisher einem De-facto-Boykott der Tory-Regierung unterliegen. Dies sei auf dem Weg zur Klimaneutralität bis 2050 nicht durchzuhalten, argumentiert der designierte Klimaschutzminister Edward Miliband: Das Land benötige dringend Kapazität zusätzlich zu allen bestehenden Off-shore-Kraftwerken, die in der Nordsee und im Ärmelkanal Strom erzeugen.

Insgesamt soll die Stromerzeugung aus Wind zu Land bis 2030 verdoppelt, jene aus Wind in der See sogar vervierfacht werden. Auch Solarenergie werde eine wesentlich größere Rolle spielen. Hingegen besteht in anderer Hinsicht Kontinuität. Wie die Konservativen sieht auch die Arbeiterpartei neue Atomkraftwerke als Teil des Energie-Mix der Zukunft. Koordiniert wird die Energiepolitik vom Regierungs-Unternehmen Great British Energy; dessen Eigenkapital, mit dem zusätzliche Privatinvestitionen angelockt werden sollen, wird bis 2029 bei 8,3 Milliarden Pfund (9,8 Milliarden Euro) liegen.

Staatsschuld soll bis spätestens 2029 fallen

Woher aber dieses Geld kommen soll, ebenso wie die geplanten, viele Milliarden teuren Verbesserungen für die Eisenbahn, Schulen und Krankenhäuser? Wie das Wahlprogramm der Regierungspartei enthalte auch das Papier der Sozialdemokraten zu wenig Finanzierungsklarheit, moniert das renommierte Institut für Fiskalstudien (IFS). Wenn die neue Regierung nicht viel Glück habe, analysiert IFS-Direktor Paul Johnson, „muss sie entweder die Steuern stärker erhöhen als bisher bekannt, Kürzungen im Staatssektor durchsetzen oder eine längerfristige Verschuldung in Kauf nehmen“.

Von entsprechenden Plänen der Konservativen unter Druck gesetzt, haben die Sozialdemokraten für die fünfjährige Legislaturperiode die Erhöhung der wichtigsten Steuern (Einkommen, Mehrwert) sowie der Rentenversicherung NI ausgeschlossen. Dadurch ist Reeves’ fiskalischer Spielraum stark eingeengt. Die Rede ist bisher lediglich von einer Milliardenabgabe der Öl- und Gasindustrie sowie der Streichung von Steuerprivilegien für Privatschulen sowie reiche Ausländer, sogenannte Non-Doms. 

Hinter vorgehaltener Hand hoffen die Labour-Finanzexperten darauf, vom amtierenden Schatzkanzler Jeremy Hunt eine verbesserte Wirtschafts- und Finanzlage vorzufinden. Tatsächlich sind die Eckdaten für die britische Wirtschaft zuletzt besser ausgefallen. Die Teuerungsrate sank auf zwei Prozent, spätestens im Herbst dürfte die Bank of England den Leitzins vorsichtig senken, was den Hypothekenschuldnern Erleichterung verschaffen und die Konsumbereitschaft erhöhen würde.

Das Wachstum lag im ersten Quartal bei 0,7 Prozent, so hoch wie in keinem anderen Land der G7-Gruppe. 4,3 Prozent der Erwerbstätigen war arbeitslos gemeldet; hinzu kommen 1,5 Millionen Menschen in teils langfristiger Erwerbsunfähigkeit. Letztere Gruppe will Labour durch eine energische Reduzierung der langen Wartelisten im Nationalen Gesundheitssystem NHS – derzeit warten 7,5 Millionen Briten auf Behandlungen oder kleinere Operationen – verringern. Dem Wahlprogramm zufolge soll die Staatsschuld (zuletzt 90 Prozent) spätestens 2029 fallen.