Kolumne von Petz LahureTour de France: Die große Flinte ist verstummt – Zum Tode von Raphaël Geminiani

Kolumne von Petz Lahure / Tour de France: Die große Flinte ist verstummt – Zum Tode von Raphaël Geminiani
Der niedergeschlagene und weinende Raphaël Geminiani nach der Tour-Etappe 1958 zwischen Briançon und Aix-les-Bains. Als 7. der Etappe büßte er 14‘35“ auf Charly Gaul ein und musste sein „Maillot jaune“ an den Italiener Vito Favero abgeben.  Foto: Buch „100 Jahre Tour de France“ von Petz Lahure

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Vor elf Tagen verlor die Tour de France mit Raphaël Geminiani ihren bis dahin ältesten Träger des „Maillot jaune“. Er starb im Alter von 99 Jahren in einem EHPAD („Etablissement d’hébergement pour personnes âgées dépendantes“) in Pérignat-sur-Allier (Auvergne). 

Letztes Jahr, als die Tour de France am 9. Juli nach langen Jahren endlich wieder zum Puy-de-Dôme zurückkehrte und am Tag danach in Clermont-Ferrand einen Ruhetag einlegte, war Raphaël Geminiani noch ein gefragter Interviewpartner, ein Jahr später trauert die Rundfahrt um ihn. Der Franzose, der bei der Grande Boucle sieben Etappen gewann, zweimal auf dem Podium stand (1951: Platz 2; 1958: Rang 3) und weitere drei Mal unter die zehn Ersten kam (1950: 4.; 1953: 9.; 1955: 6.), verschied am 5. Juli im hohen Alter von 99 Jahren. 

Vor zwölf Monaten, bei der Durchfahrt der Tour in seiner geliebten Auvergne, wollten alle von Geminiani wissen, wie ihm damals, im Juli 1952, bei der Attacke des Holländers Jan Nolten im Anstieg des Puy-de-Dôme, die Luft ausging und wie am Ende der spätere Tour-Gewinner Fausto Coppi heranbrauste, um als Erster ins Ziel zu fahren.  Auch wollten sie erfahren, was es im Jahr 1964, als Geminiani Technischer Direktor von „St-Raphaël Gitane“ war, mit dem Schulter-an-Schulter Anstieg von Jacques Anquetil und Raymond Poulidor auf sich hatte. 

Raphaël Geminiani, der am vergangenen Mittwoch, als die Tour in Le Lioran in der Auvergne Halt machte, beerdigt wurde, war eine prägende Figur dieser historischen Region Frankreichs. Er wurde am 12. Juni 1925 als drittältestes von vier Kindern in Clermont-Ferrand geboren, wohin die Eltern zwei Jahre zuvor aus Italien gezogen waren, um vor dem faschistischen Regime zu flüchten.  

Alle Leadertrikots 

Die Mutter starb, als Raphaël knapp acht Jahre alt war, danach eröffnete der Vater ein Fahrrad-Reparaturatelier, in dem der Sohnemann schon mit elf zu arbeiten begann. Zum Radfahren kam Raphaël über seinen älteren Bruder, danach willigte Vater Giuseppe ein, dass er sich zuerst bei den Nichtlizenzierten und 1943 auch als Lizenzierter bei der „Amicale cycliste clermontoise“ einschreiben durfte. Berufsfahrer wurde er drei Jahre später, seine erste Tour de France bestritt er 1947. Raphaël Geminiani fuhr 15 Jahre lang auf höchstem Niveau, er trug die Leadertrikots der drei großen Rundfahrten (Tour de France, Giro, Vuelta), gewann zudem den Bergpreis der Tour und des Giro. Französischer Meister wurde er im Jahr 1953. 

Den Beinamen „Le Grand Fusil“ („Die große Flinte“) verpasste ihm sein Mannschaftsleader Louison Bobet. Der Einfachheit halber nannte man ihn „Gem“. Von einem „Pédaleur de charme“ – wie etwa der Schweizer Schönling Hugo Koblet – war er weit entfernt. Der leichte Stil lag ihm nicht. Vielmehr war er ein harter Arbeiter, der seine große Gestalt nie schonte, weder bei Regen noch bei Sonnenschein.   

Alles andere denn schön 

Geminiani auf dem Rad in Aktion zu sehen, war keine Augenweide. Es wackelten die Beine, die Füße, der Rumpf, die Arme, die Schultern und der Kopf mit der prägnanten Nase. „Gem“ liebte es scheinbar, sich selbst zu quälen und seine Maschine zu misshandeln. Mal war sein Gesicht schmerzverzerrt, mal leuchtete der Schalk aus den Augen. Am Ende wurde dann laut geflucht oder geflachst. An Humor fehlte es Geminiani jedenfalls nie. In Sachen Herumblödeln oder Aufziehen war er ein Meister seines Fachs. 

Bei der Tour de France 1958, die von Charly Gaul gewonnen wurde, ging Geminiani durch das Tal aller Gefühle. Weil Jacques Anquetil ihn nicht in der französischen Nationalmannschaft neben sich haben wollte, musste er Unterschlupf im Regionalteam Centre-Midi finden. Dort fühlte er sich pudelwohl und übernahm nach der 13. Etappe in Pau erstmals das „Maillot jaune“.  

Das große Jammern 

Für vier Etappen trat er es zwar an den Italiener Vito Favero ab, zog es nach Charly Gauls legendärem Etappensieg beim Zeitfahren am „Mont Ventoux“ aber wieder über die Schultern. Tags darauf, am französischen Nationalfeiertag, wurde Gaul in die Falle gelockt, sein Rückstand wuchs beträchtlich an, die Tour schien eine Sache für Favero oder aber Geminiani zu werden. Doch Gaul meldete sich zurück, und wie!  

Der Himmel war wolkenverhangen und düster, als es in Briançon an den Start ging. Der Regen setzte im „Col de Luitel“ ein, wo Charly Gaul angriff. Sein Husarenritt durch die „Chartreuse“ endete mit einem Fiasko für seine Gegner. Der Belgier Jan Adrienssens als 2. folgte auf 7‘50“, der Italiener Vito Favero als 3. auf 10‘09“, Raphaël Geminiani als 7., auf sage und schreibe 14‘35“.  

Im Ziel fing „Gem“ an zu weinen. „Ils ne me prendront pas mon Tour. Je les aurai quand-même, ces traîtres, ces Judas“ wetterte er gegen die Fahrer der französischen Nationalmannschaft. Alles Heulen aber half nichts. Geminiani hatte die Tour verloren.   

Wenn zwei pinkeln … 

Ein anderer – außersportlicher – Vorfall blieb ein Leben lang in „Gems“ Gedächtnis.  Am 6. Juni 1957, auf der 18. Giro-Etappe Como-Trento, regnete es in Strömen, Charly Gaul trug das Rosa Trikot. R.A.S., „rien à signaler“, bis Gauls größter Widersacher, der dreimalige französische Tour-de-France-Sieger Louison Bobet (1953, 1954, 1955), 14 km vor Brescia anhielt, um die normalste Sache der Welt zu erledigen. Seine Mannschaft mit Raphaël Geminiani wartete ihn ab.  

Wenige Kilometer nach Bobets Halt stieg auch Charly Gaul vom Rad. Als der Franzose, der sich den Erfolg im Giro zum Saisonziel gesetzt hatte, seinen Gegner am Straßenrand erblickte, drehten bei ihm die Sicherungen durch. Nichts wie los! Bobet und seine Truppe gingen in die Offensive über. Die italienischen Tempobolzer machten mit. 

60 Jahre danach 

Was war passiert? Gaul selbst erzählte zeitlebens von einer groben Unsportlichkeit des manchmal arroganten Bobet, François Mersch, der damalige Herausgeber der Auto-Revue, der im Giro dabei war, erzählte mir von einem Scherz des Luxemburgers, den Bobet als Provokation aufnahm. „Fahr nur los“, soll Gaul geschrien haben, „ich hole dich doch wieder ein“.

60 Jahre nach der Pinkelei meldete sich Zeitzeuge Raphaël Geminiani in L’EQUIPE zu Wort: „Gaul haïssait Bobet … Dès le matin, on savait qu’il allait y avoir du grabuge. Le drame, c’est que Gaul s’arrête pour pisser et, là, il se retourne et nous exhibe son sexe. Avec Louison on se regarde, on se dit, il nous charrie, ce con-là! Alors on met un coup de flingue! Gaul passe par la fenêtre, manque de pot, je crève et je me retrouve avec Gaul. Qu’est-ce-que j’ai pas entendu! Il était furieux: ‚Ton Bobet, je vais le tuer! Je suis boucher. Je lui mettrai un coup de couteau, je l’ouvrirai par le ventre.’“ 

Revanche 

So schlimm kam es dann doch nicht. Während vorne die gute Post über Berg und Tal war, wurde Gaul von seinen Mannschaftskameraden abgewartet, fiel aber immer weiter zurück. Der Italiener Gastone Nencini kleidete sich in Rosa. Sein Vorsprung betrug knappe 19 Sekunden auf Bobet, es blieben drei Etappen zu fahren.  

Für Gaul, den Metzgergesellen, war Rache Blutwurst. Er persönlich hatte den Giro zwar verloren, doch Bobet durfte ihn nicht gewinnen. So schleppte Gaul auf der 19. Etappe im Rolle-Pass Nencini nach oben, wartete den Leader ab, als dieser in der Abfahrt platt lief, nahm ihn im Passo di Gobera in Schlepptau, führte ihn wieder ans Tandem Bobet-Geminiani heran und holte sich obendrein in Levico Terme noch den Etappensieg. Revanche geglückt! Nencini gewann den Giro, Bobet und Geminiani blieb die Erkenntnis, dass man manchmal selbst in die Grube fällt, die man andern gräbt …